Mobbing in der Schule hat viele Gesichter. Ob verbal, physisch, direkt oder online. Für die betroffenen Kinder ist es ein Albtraum, der oft nicht aufhört, selbst wenn die Schule gewechselt wird. Und auch für die Lehrer ist es eine komplizierte Situation. International gesehen liegt Deutschland im oberen Drittel der Mobbing-Erfahrungen. Eine Annäherung an ein schwieriges Thema.
Eigentlich begann dieser Fall, diese Geschichte, diese Situation, oder wie man es auch immer nennen will – die am Ende dazu führte, dass sich eine Mutter auf dem Schulweg eines fremden Kindes versteckte, um ihm aufzulauern (und ihm die Meinung zu sagen, aber gründlich), dass zwei bisher locker befreundete Väter auf dem Schulparkplatz eben dieser Schule mittelfeste Schläge austauschten, bis sie getrennt werden konnten – damit, dass sich Jakob unwohl fühlte. Dass er morgens Bauchschmerzen hatte und abends über Kopfschmerzen klagte. Dass er stundenlang allein in seinem Zimmer spielen wollte. Und das alles über einen Zeitraum von drei Monaten. Das war selbst für ein zartes, anfälliges Kind von knapp 11 Jahren auffällig. Plötzlich begann er im Schlaf mit den Zähnen zu knirschen.
Wie nebenbei sagte Jakob morgens beim Frühstück: „Heute wird kein schöner Tag und morgen wohl auch nicht.“
Oder: „Heute passiert etwas …“
Jakob war immer gern zur Schule gegangen, hatte „normale“ Konflikte gehabt, aber viele Freunde. Abgesehen von einer gewissen Überangepasstheit war er ein „ganz normaler Junge“. Das Elternhaus liberal, es wurde großen Wert auf niveauvollen Umgang gelegt. „Gewalt ist keine Lösung!“, war einer der ersten Sätze, die er von klein auf zu hören bekam. Zu seiner großen Überraschung musste Jakob im Laufe dieser Geschichte miterleben, wie sich seine Mutter völlig vergaß und ins Telefon schrie: „Und wenn das nicht aufhört, komme ich persönlich vorbei und hau‘ euch auf die Fresse!“
Auf die Fresse?!
Da hätte er früher aber richtig Ärger bekommen. Gewaltverzicht … es gibt für alles eine Lösung. Warst Du nicht vielleicht doch beteiligt? Was hast Du denn gemacht, dass es so weit kommen konnte? Dabei hatte er ja überhaupt nichts gemacht. Er wollte nur nicht mehr, dass etwas mit ihm gemacht wird.
Es fing schleichend an, rekapitulierten die Eltern später. Hier eine Beleidigung, da ein gehässiger Satz, später „witzig“ verpackte Drohungen:
„Ich bringe dich und deine Familie um. Ihr seid alle Opfer. Geh‘ doch sterben.“
Jeder vierte Schüler in Deutschland, manche Studien sagen sogar jeder dritte, ist oder war bereits Opfer von Mobbing. Ob verbale oder physische Attacken, online oder direkt im Klassenzimmer, Mobbing hat viele Gesichter. Gewalt und Ausgrenzung können bei den betroffenen Jugendlichen zu Depressionen und Selbstmordgedanken führen. Studien zeigen aber auch, dass das „klassische“ Mobbing vor allem an Grundschulen verbreitet ist, es folgen Haupt-, Gesamt- und Realschulen.
„Mobbing betrifft oft jüngere Kinder und Jugendliche, weil da das Mächteungleichgewicht sehr schnell vorhanden ist. Außerdem können sie sich in diesem Alter nur sehr schwer in andere hineinversetzen und somit auch nicht nachfühlen, was das Mobbing bei dem anderen anrichtet.“, erklärt Dr. Michael Kaess, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg.
Vielleicht begann diese Geschichte aber auch damit, dass ein neuer Junge in die Klasse kam. Nennen wir ihn Liam. Liam kam aus einer anderen Stadt, aus einem anderen Schulsystem. Ein Jahr zurückgestellt, kräftig, große Klappe und immer einen bissigen Kommentar auf den Lippen. Erst schien es noch witzig, aber dann nicht mehr. Wann genau die verbalen Angriffe ins Körperliche umschlugen, ließ sich im Nachhinein nicht mehr sagen. Hier im Vorbeigehen ein Tritt, regelmäßig wurden Beine gestellt, Stühle weggezogen. Bis sich Jakob seiner Mutter unter Tränen anvertraute, hatten sich schon machtvolle Strukturen etabliert. Der soziale Stress hatte bei Jakob nicht nur zu einem Leistungsabfall in der Schule, sondern zu Appetit- und Interessenlosigkeit geführt. Sein geliebtes Fußballtraining war plötzlich blöd. Auch hier wurde er schleichend zum Außenseiter. Traf keinen Ball mehr. Nahm die Kommentare der anderen stumm hin – statt wie früher zurückzufrotzeln.
Die Geschichte von Tom begann mit der Einschulung und dauert bis heute an. „Eigentlich wurde er die komplette Grundschulzeit gemobbt, ohne dass wir es wussten,“ erzählt seine Mutter.
Die blauen Flecken?
Ich habe mich gestoßen.
Die verschwundenen Sachen?
Verloren.
Mehr sagte er nicht dazu. Vier ganze Jahre. Bis die Mutter eines anderen Kindes Kontakt aufnahm. Nur unter großem Druck der Eltern gab Tom endlich zu, dass er geschlagen, auf den Boden gepresst, bespuckt, beschimpft und bestohlen wurde. Dann kam der große Zusammenbruch. Weinkrämpfe, sechs Wochen ambulanter Aufenthalt in der Psychiatrie. Bis heute geht er regelmäßig zum Psychologen. Denn: Obwohl er mit neuen, unbekannten Kindern auf die weiterführende Schule wechselte, ging das Mobben nahtlos weiter. Einen erneuten Schulwechsel schließen die Eltern sowohl von Jakob als auch von Tom (noch) aus. „Warum sollen wir die Schule wechseln? Das wäre das falsche Signal. Jakob hat doch
nichts falsch gemacht!“ Auch Toms Mutter empört dieser Punkt ganz speziell. „In Deutschland werden traditionell die Täter geschützt. Warum soll das Opfer gehen und der Mobber darf bleiben? Er sieht sich ja in seinem Handeln bestätigt und findet sofort neue Opfer.“
Jakob besucht seit kurzem einen Selbstverteidigungskurs. „Den Täter können wir nicht ändern“, sagt Jakobs Mutter. „Aber wir können versuchen unserem Sohn mehr Kraft zu geben, eine Schutzhülle aufzubauen. Und trotzdem ist ist schade, dass sich sensible, empfindsame, freundliche Kinder abhärten müssen, um nicht kaputt zu gehen.“
Wie die Geschichte von Jakob und Liam, von Tom und seinen Peinigern ausgeht? Wir wissen es (noch) nicht. Aber falls wir es erfahren, berichten wir euch davon.
bw // Illustration: Julia Depis
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