Trauerkleidung für die Allerkleinsten. Isabel Weber aus Worms und ihr Projekt Himmelskleider
Wenn ein Mensch stirbt, kennt unsere Kultur Riten, die das Abschiednehmen leichter machen sollen. Das Begräbnis, ein Trauerjahr. Was ist aber mit Trauernden, die ihr Kind verloren haben, noch bevor das gemeinsame Leben beginnen konnte? Wer schwanger ist, ist in guter Hoffnung. Dass es auch Kinder gibt, die nicht lebend zur Welt kommen oder kurz nach der Geburt tot sind, darüber wird meist geschwiegen.
Das Haus von Isabel Weber liegt in einem ruhigen Stadtteil in einem Wormser Vorort. Drei Generationen wohnen hier unter einem Dach. Es ist hell hier, kleine Kinder wuseln über den Boden. Die Söhne David und Noam und Henri, der zu Besuch ist. Isabel Weber ist eine energische junge Frau – tatkräftig, eloquent, umsichtig. Eigentlich ist sie Hebamme. Vor sechs Monaten begann das Projekt „Himmelskleider“: aus gespendeten Brautkleidern näht sie winzige Kleidung für Sternenkinder. Kinder, die totgeboren werden, oder die so viel zu früh auf die Welt kommen, dass sie nicht lebensfähig sind und nach der Geburt noch im Krankenhaus versterben. Der Umgang mit diesen Frühchen ist bis heute ein Tabu.
Wer die Werkstatt der Himmelskleider besuchen will, muss nach unten in den Keller. Hier im ehemaligen Gästezimmer hat sich Isabel Weber ein Nähatelier eingerichtet. In einer Ecke schimmern im Halbdunkeln teure Brautkleider in creme, weiß und champagner. Mit Perlen, mit Schleppen, aus Taft und Seide und Spitze. Isabel Weber holt eines der Kleider heraus, es bauscht sich anmutig aus der Hülle. „Dieses Kleid hier hat mir eine Frau aus Paris geschickt. Sie ist damit durch das Moulin Rouge gelaufen …“. Ein anderes, aufwändig besticktes Kleid wird vorsichtig ausgepackt. „Bei diesem Kleid lag ein Brief, in dem die Spenderin schrieb, dass ihr Vater kurz vor der Hochzeit an Krebs gestorben sei. Er konnte an ihrem Hochzeitstag nicht mehr dabei sein, aber er hatte sie vor seinem Tod noch in dem Brautkleid gesehen. Und jetzt möchte sie das Kleid Stück für Stück zu ihrem Vater zurückschicken.“
Wir müssen schlucken. Zu jedem Kleid gibt es eine berührende Geschichte. Der Kloß im Hals wird größer mit jedem Kleid und jeder der roten, feinen Schachteln, die Isabel im Halbschatten ihres Nähzimmers öffnet. In den Schachteln sind Schühchen, nicht viel größer als ein Daumennagel. Winzige Mützchen. Ein weißes Kleidchen. Ein „Himmelskleid“. Geschneidert aus einem der Brautkleider.
80 Kleider stehen auf der Warteliste, Isabel Weber kommt nicht hinterher mit dem Nähen. Um Kleidchen zu schneidern braucht sie einen kompletten (freien) Abend. Und zu der aufwändigen Näharbeit kommt ganz viel Projektarbeit – die Mails beantworten, die Presse vertrösten, den Frauen antworten, die helfen wollen. Jede freie Minute geht in die Himmelskleider.
Das Projekt ist für die junge Mutter nicht nur ein Projekt, es ist auch Trauerarbeit, Konfrontation mit der eigenen Geschichte. 2011 war Isabel Weber mit Zwillingen schwanger. Die Schwangerschaft war von Anfang an problematisch, die eineiigen Zwillinge teilten sich einen Mutterkuchen und wuchsen unterschiedlich schnell. In der 24. Woche musste sie ins Krankenhaus. In der 26. Woche wurden die Zwillinge per Kaiserschnitt geholt.
„David ging es im Bauch nicht mehr gut. Er war der Grund für den Kaiserschnitt. Doch der andere Zwilling, Jonathan, wurde aus seinem kuscheligen, warmen ‚Bett‘ gerissen. Als ich ihn sah, wusste ich gleich, dass es ihm schlecht geht. Durch meinen beruflichen Hintergrund verstehe ich zu viel von den Vorgängen. 48 Stunden nach der Geburt ist er gestorben.“
Isabel Weber packt eines der Kleidchen samt Mütze und Schühchen vorsichtig zurück. „Wenn ein Kind stirbt, kollabiert die ganze Welt. Diesen Zustand mit ‚Schock‘ zu beschreiben, wäre noch untertrieben“. Jonathan wurde in selbst gestrickten Söckchen und Mützchen und einem viel zu großen Body für Frühchen beerdigt. Kleinere Kleidung gab es nicht.
Als Isabel Weber vor sechs Monaten ihr Projekt Himmelskleider ins Leben rief, war der ursprüngliche Plan zwei Kliniken zu beschenken: Die Kinderklinik in Worms und Heidelberg – weil dort ihre Söhne zur Welt kamen. In Worms lagern die Kleidchen bereits auf der Station, Heidelberg hat bisher kein Interesse gezeigt. Dabei sollten die Kleidchen gerade dorthin, wo Jonathan keine Kleidung hatte.
Isabel Webers Stimme bleibt ruhig. Und doch.
„Ein totes Kind wird beerdigt und dieses Bild ist das Letzte, was Eltern von ihm sehen. Woran sie sich erinnern. In unserer Kultur gibt es Rituale fürs Abschiednehmen. Tote werden festlich angezogen für ihren letzten Weg. Und unsere Frühchen haben nichts an? Es ist ja nicht nur die fehlende Kleidung. Diese Kinder existieren in dem Bewusstsein der Gesellschaft nicht, sie sind unsichtbar. ‚Es hat ja noch gar nicht gelebt‘ … und ‚dann ist es doch nicht so schlimm‘ sind gängige Floskeln. Ich möchte natürlich in erster Linie die Eltern in ihrer Trauer unterstützen. Aber auch diese Kinder ein Stück in das Bewusstsein der Gesellschaft holen.“
Inzwischen beliefert Isabel Weber drei Krankenhäuser, weitere stehen auf der Warteliste. Ein Spendenaufruf in der Wormser Lokalzeitung und eine Facebookseite machten aus einem kleinen Gedanken ein „Riesen-Projekt“. Eine professionelle Schneiderin hat sich gemeldet und einen kostenlosen Nähkurs angeboten. Aus ganz Deutschland haben sich Freiwillige gemeldet: ‚Ich würde gern mein Brautkleid schicken, ich helfe beim Nähen … !‘. Aber ich kann doch nicht einfach eines dieser wertvollen Brautkleider losschicken, ohne dass ich diejenige kenne, der ich das Kleid schicke.“ Auch deshalb bleibt das Projekt vorerst regional begrenzt. Eine Grafi kerin gestaltete professionelle Flyer, eine Druckerei druckte sie kostenlos, eine Firma spendete 200 wertvolle rote Boxen pro Jahr, in die die
Kleidchen verpackt werden. Der SWR war da und hat gedreht – gerade hat RTL angefragt.
Und warum Brautkleider? Warum nicht Tauf- oder Kommunionkleider? „Ein Hochzeitskleid ist das Symbol der Liebe“, sagt Isabel Weber, ohne lange nachzudenken. „Eine Hochzeit ist ein Tag, der die Liebe feiert. Und was hätte ich mir für meinen toten Sohn Schöneres wünschen können?“
Wir können plötzlich nicht mehr weiterfragen. Der Kloß im Hals ist zu groß. Wir greifen nach Stift und Block und Aufnahmegerät. Statt zurück nach Hause verirren wir uns auf dem Rückweg von Isabel Webers Haus in die grauen, verregneten Pfälzer Berge. Noch immer durcheinander von dem kurzen Blick auf die weiß schimmernden Brautkleider im Keller und die winzigen Kleidchen in roten Schachteln.
bw // Fotos: sho
Mehr zu Isabel Weber und ihrem Projekt Himmelskleider gibt’s unter:
himmelskleider.de oder
facebook.com/himmelskleider
In Deutschland ist es längst gängige Praxis, dass die viel zu früh Geborenen, auch Kinder unter 500 Gramm, einen Namen bekommen dürfen und somit einen Eintrag ins Geburtsregister, in anderen Ländern ist dies noch nicht erlaubt. Dabei macht doch erst der Name ein Wesen zum Menschen. Kommt ein Kind tot zur Welt, oder stirbt nach der Geburt,ist die Umgebung oft völlig überfordert. Die Eltern, die Hebammen, das Krankenhauspersonal. Erst langsam setzt sich hier ein Procedere durch – seit einigen Jahren gibt es von Weinheim bis Speyer auch eigene Bereiche auf den Friedhöfen für „Sternenkinder“. Ob die Eltern am Begräbnis teilnehmen dürfen, ist von Ort zu Ort unterschiedlich.
Danke für diese großartige Geschichte!