Bereits im Kindergartenalter entwickelt sich ein Vorläuferwissen über die Bedeutung von Zahlen und Mengen. In den ersten Schuljahren wird dieses Basiswissen erweitert, die Kinder erlernen die Grundrechenarten und verinnerlichen die Basis mathematischer Logik. Bei circa vier Prozent aller Grundschulkinder klappt das nicht von allein. Diese vier Prozent leiden an einer Rechenschwäche, auch Dyskalkulie genannt: einer Störung im Erlernen rechnerischer Fertigkeiten. Sie ist das mathematische Gegenstück zur Legasthenie. Den betroffenen Kindern fehlen das nötige Mengenverständnis und die Zählfertigkeiten, um die Grundrechenarten erlernen zu können. Sie verstehen Zahlen als reine Symbole, nicht als Mengenangaben. Damit fehlt ihnen bereits das wesentliche Handwerkszeug, um Lernschritte in der Mathematik zu verinnerlichen. Die entsprechenden Stellen und Institutionen sind bundesweit gut besucht – von verzweifelten Eltern und Kindern, die trotz aller Bemühungen kein Verständnis für Zahlen entwickeln.
„Rechenschwäche ist ja auch immer ein Ausdruck davon, dass etwas ganz generell nicht so läuft, wie es soll“
In diesen Fällen eine reine Nachhilfe anzubieten, sei oft nicht hilfreich, findet Elke Kumar von der Ergotherapiepraxis Kumar in Hirschberg. „Rechenschwäche ist ja auch immer ein Ausdruck davon, dass etwas ganz generell nicht so läuft, wie es soll.“ Statt reiner Nachhilfe empfiehlt die Ergotherapeutin ganz an den Anfang zurückzugehen, zur „Wurzel des Übels“.
Und was genau ist diese Wurzel des Übels? „Die Wahrnehmung“, so Elke Kumar. „Bei einer Dyskalkulie sind oft (nicht immer) im Wahrnehmungsbereich Entwicklungsrückstände feststellbar. Das können sein: Die Simultanerfassung, das Erkennen einer kleinen Menge auf einen Blick, die Raum-Lagewahrnehmung, wie Drehung oder Spiegelung von Zahlen, die Wahrnehmung der räumlichen Beziehung, also das Vertauschen von Zehner und Einer, Beispiel: 13/31.“ Und deshalb sei es so wichtig, hier handlungsorientiert vorzugehen. Stichwort „learning by doing“. „Die Kinder sollen nicht nur am Tisch sitzen, mit Papier und Bleistift, das könnte ihre bereits etablierte Abneigung gegen und Angst vor schulischen Situationen noch verstärken.“ Ergotherapie bezieht den ganzen Körper mit ein, verwendet konkretes Anschauungsmaterial für ein SINN-erfassendes Lernen.
„Schwierigkeiten beim Mathematiklernen werden bestraft“
Dr. Hermann Sturm, Institutsleiter Duden Institut für Lerntherapie Mannheim, betont die Bedeutung der frühen Hilfen. Je früher eine Schwäche erkannt werde, umso besser. Denn: „Die Inhalte der Mathematik bauen hierarchisch aufeinander auf. Das heißt, dass Lernschritte nicht übersprungen werden können. Eine frühe Hilfe ist schneller wirksam und dem betroffenen Kind können Leidenserfahrungen erspart werden, die dann erwachsen, wenn es den Herausforderungen des Mathematikunterrichts nicht folgen kann.“ Die wichtigste Hilfestellung, da sind sich die Experten einig, ist: „Eltern sollten an ihr Kind glauben.“ Sturm gibt den Tipp: „Eltern sollten viel daran setzen, das Selbstwertgefühl des Kindes zu unterstützen. Es braucht Zuspruch und Trost. Und es muss den unerschütterlichen Glauben verspüren, dass es die Schwierigkeiten überwinden wird. Eltern sollten nicht versuchen, die Lehrerrolle zu übernehmen, denn dann fehlen sie dem Kind als Vater und Mutter. Auch sind Schuldzuweisungen nicht hilfreich. Weder das Kind noch die Eltern haben Schuld an der Situation. Es ist nicht wichtig, viel zu üben, sondern das Richtige. Das Kind soll verstehen, was beim Rechnen passiert und das kann es dann, wenn es Inhalte durch eigene Erfahrungen erschließen kann. Eltern sollten viel Geduld und Verständnis aufbringen, nicht versuchen, bei jeder Gelegenheit etwas zu erklären.“
Und auch die Schulen sollten umdenken und mehr vom Kind aus denken. Denn im Gegensatz zur Lese-Rechtschreibstörung gibt es bei einer Dyskalkulie keinen Notenschutz. Und auch aus diesem Grund ist das Fach bei vielen Schülern so unbeliebt. „Schwierigkeiten beim Mathematiklernen werden bestraft“, so Sturm. Und: „Oft wird Mathematik aufs Rechnen reduziert. Andere Felder wie Geometrie, Größen oder Sachaufgaben kommen häufig zu kurz. Damit fehlen dem Kind Möglichkeiten, vielleicht dort Erfolge zu erzielen.“
bw // Foto: mschi, sho
Infos: Dyskalkulie ist keine Krankheit im klassischen Sinne, wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als schulische Entwicklungsstörung anerkannt und wird in ihrer Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10; F81.2) beschrieben und definiert.
Ohne eine individuelle Lernförderung sind Lernfortschritte bei einer Rechenstörung nur sehr schwer oder gar nicht möglich. Denn Dyskalkulie ist „ entwicklungsstabil“, sie nimmt also mit zunehmendem Alter nicht von selbst ab. Die möglichst frühzeitige Diagnose sowie schulische und außerschulische Unterstützung hingegen schaffen die Voraussetzung, um weitere Lernschritte und eine begabungsgerechte Schul- und Ausbildungslaufbahn zu ermöglichen. Auch die hohe psychische Belastung sowie eine oft ausgeprägte Matheangst der Betroffenen können abgebaut oder verhindert werden.