„Verzockte Zukunft: Wie wir das Potenzial der jungen Generation verspielen“ heißt der im BELTZ Verlag erschienene Titel des in Weinheim lebenden Hochschulprofessors Gerald Lembke. Das Buch liest sich streckenweise sehr düster. Die junge Generation sei faul, egoistisch und antriebslos. Und voller Angst vor der Zukunft. Gründe sieht der Autor in Gesellschaft und Politik: Junge Menschen werden instrumentalisiert für wirtschaftliche Interessen, sind ein Spielball der Bildungspolitik und ihrer Reformen. Die Sorgen der Eltern verstärken die Angst und Unlust ihrer Kinder. Wir haben mit dem Autor gesprochen.
Sehr geehrter Herr Prof. Lembke. Beim Lesen Ihres jüngst veröffentlichen Titels „Verzockte Zukunft“ bekommt man schnell den Eindruck: Alles läuft falsch im Bereich der Bildung. Angefangen bei überforderten Grundschullehrern, Kindern, die nicht einmal „Guten Morgen“ sagen, über phlegmatische und unselbständige Studierende bis hin zu Berufsanfängern, die wie Kleinkinder an die Hand genommen werden müssen. Wie konnte es so weit kommen?
Unser Bildungssystem ist nach vielen Jahren des Experimentierens an einem Punkt angelangt, an dem es für immer mehr Pädagogen und Professoren aus eigener Kraft strukturell nicht mehr veränderbar scheint. Das erzeugt Frust. Es stehen unzählige Bildungsexperimente in 16 Bundesländern, die nicht koordiniert und aufeinander abgestimmt werden. Seit Jahren setzt sich nicht das pragmatisch Notwendige durch, sondern das politisch Unsinnige. Im Endergebnis wird die vielerorts gute Arbeit und das Engagement von Lehrern und Professoren nicht gefördert, sondern behindert. Das Ziel, den Lernenden das Maximale des persönlichen, pädagogischen und didaktischen Engagements zukommen zu lassen, haben wir spätestens mit den fragwürdigen säkularen Umsetzungen der Bologna-Reform verlassen.
Einerseits beklagen Sie das mangelnde Wissen der Kinder, andererseits prangern Sie an, dass Schulanfänger einem hohen Leistungsdruck ausgesetzt sind. Widerspricht sich das nicht?
Nein, denn ich sage ja nicht, dass die Kinder bis zu jungen Erwachsenen nichts mehr wissen. Ganz im Gegenteil beobachte ich, dass die kognitive Auffassungsgabe und das effektive Lernen heute deutlich ausgeprägter ist als es bei uns Älteren jemals war. Sie besitzen aber eben nicht die sozialen und persönlichen Fähigkeiten, die von ihnen gewünscht sind. Und das beginnt bereits in der Schule. Der Leistungsdruck führt zudem dazu, dass unsere Kinder zwar schnell und viel auswendig lernen können, aber
leider nicht mehr verstehen, was sie da in sich aufsaugen und was sie damit eigentlich anstellen sollen. Die Schell-Jugendstudie bestätigt dieses Problem nachdrücklich.
Immer wieder kommen Sie auf die fatalen Wirkungen des (zu frühen) Medienkonsums bei Kindern zu sprechen. Liegt hier die Wurzel allen Übels?
Ich spreche damit den exzessiven Digitalkonsum bereits bei Kindern an und die Abhängigkeit von Eltern und eben diesen Kindern von Smartphone & Co. Bereits 2014 habe ich mit Ingo Leipner in unserem Buch „Die Lüge der digitalen Bildung – Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“ die These ausgearbeitet: Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins Computerzeitalter. In den fünf Jahren nach diesem Buch kann man sie nicht oft genug wiederholen. Dies wird so lange notwendig sein, bis sowohl die Eltern als auch ihre Kinder einen verantwortungsvollen Umgang mit den digitalen Medien erlernt haben, Deutschland ein Beispielland für Medienmündigkeit in Europa sein wird. Davon sind wir leider noch sehr weit entfernt.
Wir lesen viel von der richtigen „Haltung“ der Eltern. Von „Tugenden“, von Autoritäten, die weder von Eltern noch Kindern akzeptiert werden. Was genau ist Ihrer Einschätzung nach eine „gute Erziehung“?
Meine Erfahrungen als Vater? Demnach ist eine gute Erziehung vor allem geprägt von der Zeit und erzieherischen Intensität mit dem Kind. Darin stehen Liebe, Zuwendung, Kommunikation, spielerische Experimente und Auseinandersetzungen ganz oben auf der Tagesordnung. Neben dem Zeitaufwand erfordert das vor allem Anstrengung. Sowohl Zeit als auch Anstrengung scheinen einer nicht unerheblichen Masse von Eltern in unserem Land immer mehr abzugehen, Einkommensmaximierung und Konsum hindern sie konkret daran.
„Schulen brauchen eine Renaissance der Regeln“, lesen wir. „Ansagen von Lehrerinnen und Lehrern müssen gelten.“ Gibt es in der Kindheit nicht viel zu viele Regeln, die unkommentiert aufgestellt und durchgesetzt werden?
In der Tat funktionieren viele Kinder nach den ungeschriebenen Regeln. Nehmen Sie das Fußballspielen. Statt sich kreativ austoben zu können, werden Kinder in ein unverrückbares Regelkorsett gesteckt, das von Erwachsenen allein aufgestellt wird. So können Kinder ihr kreatives Potential schwierig entdecken und schon gar nicht entwickeln. Sie funktionieren nach den Regeln der Alten ohne etwas für die Regeln selbst beitragen zu können oder zu dürfen. Das meine ich mit der „Renaissance von
Regeln“, nicht konservative Werte (neu) zu verstärken, sondern das Traditionelle neu zu denken. Schulen täte so ein Leitbild gut. Kooperativ vereinbarte Regeln müssen auch hier sanktionierbar sein. Meine Gespräche mit Lehrern zeigten bezüglich der Sanktionierbarkeit ein desaströses Bild. Statt einen latent störenden Schüler des Raumes zu verweisen, wird die gesetzlich mögliche Sanktion aus Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit gegenüber Rektoren und Schulämtern gemieden.
Gute Noten gibt es in Gymnasien und Hochschulen angeblich nur noch zur Konfliktvermeidung. Schlechte Noten werden oft nicht akzeptiert. Ist es nicht sinnvoll, die Notenvergabe zu kritisieren? Zahlreiche Studien belegen die Ungerechtigkeit von Noten.
Notenvergaben sollten fair verlaufen, richtig! Ob sie dann auch als gerecht empfunden werden, liegt im Auge des jeweiligen Betrachters. Ich halte die Vergabe von Noten vor allem im gesamten Range von 1,0 bis 5,0 für hilfreich für die Leistungseinschätzung – mit einer Einschränkung. Eine Prüfungsleistung darf nicht allein zu dieser Note führen, sondern aus einem Bündel von Prüfungsleistungen. So kann eine Leistungsbewertung aus dem arithmetischen Mittel aus Klausur, Präsentation und Einzelarbeit hergeleitet werden. Einige Lehrer machen das bereits, doch viele scheuen den Aufwand.
„Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start“
Wir zitieren noch einmal: „Auch jenseits des pervertierten Föderalismus spaltet eine katastrophale Bildungspolitik unsere Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Das Bildungssystem ist infiziert von neoliberaler Ideologie. Es geht vor allem darum, Steuergelder zu sparen und die Sozialkassen zu füllen.“ Ist es nicht naiv anzunehmen, dass in Bildung zu einem anderen Zweck investiert wird?
Bildungsverantwortliche, die Bildungstransfers wie ein betriebswirtschaftliches Konstrukt betrachten und rechnen, vernachlässigen das menschliche Potential von Lernenden. Dieses einzusetzen kann und darf nicht für politische Fehler und Nachlässigkeiten in der Generationen- und Sozialpolitik herhalten. Stattdessen muss es für die Lösung von eben diesen Problemen eingesetzt werden. Wenn der Staat aber in seiner Haushaltsdebatte für 2020 aktuell die Etats aller Ministerien erhöht und nur das des Bildungsministeriums zusammenstreicht, werden eben nicht nur die Potentiale der jungen Leute mit Füßen getreten, sondern die gesparten Steuergelder auch noch zum Stopfen von Finanzierungslücken in der Sozialpolitik eingesetzt. Die jungen Menschen müssen in einem der reichsten Länder der Welt doppelt herhalten, erstens mit ihrem Können und zweitens mit mangelnden Lernausstattungen in ihren Bildungseinrichtungen.
Bologna und den vor 20 Jahren eingeführten Bachelor-Abschluss sehen Sie sehr kritisch. Woran liegt das?
Weil ich Bologna täglich auf dem Schreibtisch bearbeiten darf.
„Die Universitäten produzieren akademisches Proletariat“
Ist das Bachelor-Studium Ihrer Einschätzung nach tatsächlich keine akademische Ausbildung? Die Universitäten und Fachhochschulen produzieren angeblich „akademisches Proletariat“. Das sind harte Worte …
Es ist proforma noch eine akademische Ausbildung. Mit Bachelor und Master ist der akademische Anspruch an den Beispielen kritisches Denken und selbständige Geistesarbeit deutlich gesunken. Das wundert nicht, denn es ist ja politisch gewollt, dass Bachelor und Master berufsqualifizierende Ausbildungen sind und keine „freigeistigen Veranstaltungen“ mehr wie in den 70er Jahren. Es gibt viele, die das gut finden. Aber dann müssen wir uns nicht wundern, wenn immer mehr junge Leute unreflektiert nach dem funktionieren, was ihnen vorgegeben wird.
Stichwort „Generation Freizeit“: Dass immer mehr Berufseinsteiger großen Wert auf eine ausgewogene Work-Life- Balance legen, finden wir aus Elternsicht sehr positiv. Sie kritisieren die Einstellung, dass Arbeit nicht an erster Stelle steht. Auf der anderen Seite betonen Sie den hohen Stellenwert der Familie für das gesunde Aufwachsen von Kindern. Wie passt das zusammen? Niemand kann sich zugewandt um seine Kinder kümmern und gleichzeitig 40 Stunden oder mehr produktiv arbeiten. Also ist es doch nur sinnvoll, die Prioritäten von Anfang an klarzumachen, oder?
Nein, ich kritisiere nicht, dass die Arbeit nicht auf Platz 1 der jungen Menschen steht. Ich kritisiere, dass es immer mehr jungen Menschen schwerfällt, sich für ein Thema, einen Beruf, eine Tätigkeit zu begeistern. In welcher Form, mit wie vielen Stunden, in welchem Lern- oder Arbeitsverhältnis sie dies tun, muss dabei egal sein. Hauptsache sie finden ein Thema, für das sie brennen. Wenn das die Familiengründung und Erziehung sein sollte, ist das ebenso wunderbar. Wenn man aber alles will, geht es ohne Prioritäten nicht. Dann muss das eine oder das andere mit anderer Energie verfolgt werden, aber eben auch mit niedrigeren Erwartungen einhergehen. Wenn ich mich für eine motivierende berufliche Tätigkeit entscheide, kann ich nicht sechs Kinder in die Welt setzen und von mir erwarten, dass ich mit jedem Kind am Tag eine Stunde spiele. Häufig werden Eltern von diesem einfachen Dilemma überrascht.
Unreif, egoistisch, mutlos, angepasst, labil, desinteressiert am gesellschaftlichen Geschehen … ist laut Ihrer Aussage die junge Generation. Die Entwicklungen der letzten Monate rund um die „Fridays für Future“-Demonstrationen müssen Sie sehr überrascht haben? Hätten Sie Ihr Buch gern noch entsprechend überarbeitet?
Diese Bewegung treibt mir tatsächlich ein freudiges Lachen ins Gesicht. Hier finden sich persönlich und charakterlich entwickelte junge Menschen zusammen, die für ihr Thema Ökologie brennen und einstehen. Wunderbar! Ich äußere in meinem Buch eben genau diesen Wunsch: Junge Menschen sollten für ihre Interessen endlich wieder auf die Straße gehen und den Alten zeigen, was für einen Murks sie verursachen.
Interview: bw // Fotos: Fotolia, BELTZ