Rosa Flügel habe ich schon. Ein Schwert auch. Ob das reicht?
Irgendwie ist das doch komisch, dachte immer, wenn andere Eltern von der ständigen Angst um ihre Kinder sprachen. Ich kannte das Angsthaben bisher überhaupt nicht, dabei habe ich einen immerhin schon neunjährigen Sohn und eine Tochter im Kindergarten.
Mein Sohn ist so brav und rücksichtsvoll, er weiß gar nicht wie das Regelbrechen geht – dachte ich.
Bis vorgestern, da wollte ich mich eigentlich von der mit Schule, Arbeit, Fussball, Musik und Ballett vollgestopften Woche erholen – hatte dann aber den ganzen Tag zehn Nachbarskinder im Haus, die rein- und raus- und hoch- und runterrannten.
„Hast Du wieder Nerven?“ fragte mich meine Tochter irgendwann. Da schmiss ich alle raus und mein Sohn zog maulend mit seiner Bande los – um über fast drei Stunden nicht zurückzukommen. Nach einer Stunde wurde ich unruhig, nach zwei Stunden lief ich ziellos durch unser Viertel. Horrorvisionen flimmerten mir über die Netzhaut: Um 18 Uhr wollte eine Mutter ihren Sohn abholen – was sollte ich ihr sagen? Es tut mir Leid, ich habe heute keinen Sohn für dich?
Die fünf Jungs blieben einfach verschwunden.
Dass sie sich in der nahe gelegene Kirche verstecken („Um zu beten!“, Zitat!) konnte ich ja nicht ahnen.
Ich schwor mir, mich nie wieder über die Mütter lustig zu machen, die ihren Kindern ihre Handynummern auf den Arm schrieben, die ihnen nicht abnehmbare Armbänder mit Adressangaben um die Handgelenke zurrten, sobald sie sich in einer Menschenmenge von zehn Personen aufhielten, die ihre Kinder mit Kameras filmten, um jede ihrer Bewegungen zu verfolgen, die einfach ständig Angst hatten.
Ja! zur Überwachung, dachte ich jetzt grimmig.
Ich schwor mir, einen großen Hund zu kaufen und ihn als Suchhund ausbilden zu lassen, plötzlich wollte ich alles Mögliche machen (wäre ich doch mal in die Kirche gegangen und hätte eine Kerze angezündet. Leider bin ich nun mal Atheistin).
Ich konnte plötzlich alle verstehen und wünschte, ich hätte einen Pfeilsender an meinem Sohn angebracht. Es war ein völlig neues Gefühl für mich. Angst zu haben war bisher einfach nicht nötig gewesen. Mein Sohn war immer zuverlässig, sein Radius war nicht sehr groß, er hielt sich am liebsten in Rufnähe aus.
Ich verfluchte mich, dass ich mich über den engen Radius, das Bravsein meines Sohnes manchmal amüsiert hatte. Vielleicht war ich sogar etwas besorgt? Zog ich einen Langweiler groß? Ich will doch, dass er selbständig, selbstbewusst und weltoffen wird, warum hatte ich nicht vorgesorgt …?
Wie praktisch für mich, dachte ich, während meiner Suchaktion. So kriegt er nie Flügel! So hat er nur dicke, fette Wurzeln.
Und mir wurde eines klar: bisher hatte ich ihn völlig ohne Regeln, ohne Druck, ohne Konsequenzen großgezogen und mir eingeredet, es sei nicht nötig. Das war bequem für mich. Aber für ihn? Ohne die Regeln zu kennen, kann man die Welt nicht kennen (lernen). Ohne zu wissen, was es für Gefahren gibt, ist man ihnen schutzlos ausgeliefert.
Als ich die fünf Jungs endlich zufällig in einem der Hinterhöfe traf, waren sie bester Laune. Und voller Geschichten von erlebten Abenteuern. Meine Sorge konnten sie natürlich nur in Bruchstücken nachvollziehen. Jetzt weiß ich, wie das Angsthaben geht.