Schulzeit ist Spielzeit – zumindest in den vergangenen Wochen und Monaten in ausgewählten Schulen der Region. Walter Knapp und Kerstin Dreier haben das Projekt „Draußenspiel“ gegründet und bringen das freie Spielen zurück zu den Kindern. „Das haben viele nämlich komplett verlernt“, so Kerstin Dreier. Bereits vor Corona habe sich diese Tendenz gezeigt, unterstützt durch die Verlagerung der Nachmittage weg vom Draußen-Spielen – hin zu Tablet und Handy. Die Pandemie mit ihren Schulschließungen habe diese Tendenzen noch verstärkt.
„Jetzt im Frühling sind die Spielplätze zwar voll“, beobachten die Initiatoren, „aber es sind meistens die Eltern, die sich verabreden und ihre Kinder dann beaufsichtigen. Bei Konflikten und Streit werde sofort von den Eltern eingegriffen. Freies Spielen? In Phantasiewelten ungestört abtauchen? Das sei kaum noch möglich. „Kinder haben das Spielen verlernt“, beobachtet Kerstin Dreier. „Dabei ist Spielen für Kinder überlebenswichtig. Es ist praktisch ihre Aufgabe, ihre Arbeit.“
Eigentlich müssen sich Lehrerschaft und Schulleitungen strikt an die Lehrpläne halten – die Grundschüler sollen schließlich mit Ende der vierten Klasse fit für die weiterführenden Schulen sein. Ein regelmäßiger „Waldtag“, ein Ausflug, Projekte zum sozialen Lernen … all das fand oft zu wenig Platz, vor allem, weil häufig die Gelder dafür fehlten. Das ist jetzt anders. Momentan werden viele solche Projekte durch Corona-Hilfen oder Spenden (z.B. der DKJS (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung)) finanziert. „Wir kommen mit den Anfragen der Schulen kaum hinterher, erklärt Kerstin Dreier. Lehrer und auch Eltern sehen großen Nachholbedarf und nicht nur in Mathe, Englisch und Deutsch. Sondern im ganz normalen freien Spielen an der frischen Luft. Ohne „richtiges“ Spielzeug, ohne vorgegebenen Ablauf, ohne Wettbewerb.“
Viele Kinder haben das Spielen verlernt Pädagogische Grundlage von „Draußenspiel“ ist das „Loose Parts Play“-Konzept, entwickelt, um Kindern soziale Kompetenzen zu vermitteln. Gespielt wird mit alltäglichen Dingen, wie Pappröhren, alten Töpfen oder Holzstücken, und vor allem: selbständig. Die einzige Regel, die im Vorhinein festgelegt wird, ist, dass die Kinder beim Spielen auf sich selbst, die Mitschüler und das Material achtgeben sollen.
Neue Regeln werden nur dann definiert, wenn Handlungsbedarf besteht. Erwachsene sollen sich also im Hintergrund halten und nur in Situationen eingreifen, in denen die „Selbstregulierung nicht mehr funktioniert“, erklärt Walter Knapp. Ziel des Projekts ist es, den Kindern durch das freie und selbstbestimmte Spielen Möglichkeiten zu bieten, soziale Kompetenzen im „Miteinander“ zu entwickeln. In diesem Bereich sieht Knapp besonders durch Corona viel „Entwicklungs- und Verbesserungspotenzial“. Defizite fallen im sozialen Miteinander besonders bei Erst- und Zweitklässlern auf, die „wegen Corona noch nie einen richtigen Klassenverband erlebt haben und bisher nur die eigene Familie als soziales Spielfeld hatten“, so Dreier.
Heute sind Kerstin Dreier und Walter Knapp in der Dietrich-Bonhoeffer- Schule in Weinheim. Die Mädchen und Jungen der zweiten Klasse haben sich Tücher, Töpfe und Reifen geschnappt. Gespielt werden klassische Rollenspiele, es werden Burgen gebaut, auf Türme aus Autoreifen geklettert, zwei Kinder servieren sich Tee in Phantasie-Tassen. Klassenlehrer Sebastian Schneid ist begeistert von der Selbstständigkeit und der Genügsamkeit der Kinder, die sich mit einfachsten Materialien ihre eigene Spielwelt aufbauen und das Vorhandene nach ihren Bedürfnissen zweckentfremden. Schneid sieht im Vergleich zu den alltäglichen Pausen einen „großen Schritt“ und erkennt während der zweistündigen Spieleinheiten der Kinder ein verbessertes Sozialverhalten und dass sich neue Spielgruppen bilden. Verblüfft ist er davon, „wie nah an der Lebenswirklichkeit gespielt wird“, da sich einige der Kinder im Spiel als Hoteliers und Gastronomen, andere als Ingenieure und Architekten versuchen.
„Draußenspiel“ sei mehr als nur ein Projekt, es ist eine „Herzensangelegenheit“, sagt Knapp, der von Lehrern und Schulen in Dienstbesprechungen „bombastisches Feedback“ erhält. Langfristiges Ziel sei es, permanente Angebote für „Loose Parts Play“ an Schulen zu etablieren, damit Kinder auch jahrgangsübergreifend miteinander spielen können.
heh/bw // Fotos: Draußenspiel
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