Einmal Rolle vorwärts, bitte! Die Jungen von heute sollen alles sein. Stark und dabei sensibel. Vorlaut – aber nur wenn es gerade passt. Wild im Wald und still in der Schule. Später dann Haupternährer und dabei Vollzeitfamilienvater. Ja, was denn nun? Alles auf einmal? Und wo bleiben bei den ganzen Erwartungen und Anforderungen die Jungen selber? Wir haben uns umgeschaut und gemerkt: Jungen heute haben es nicht leicht.
Früher heißen die Helden Captain Future. Batman. Anakin Skywalker. Superman. Sie waren Lichtgestalten, Superhelden. Und heute? „Heldentum“ ist als Konzept überholt. Denken wir an Helden, fällt uns niemand ein. Oder vielleicht doch: der Klassenlehrer der kleinen Tochter. Der noch genau weiß, wie hilflos er sich als Junge gefühlt hat. Der eine Theateraufführung plant, in der es nur Hauptrollen gibt. Der an Weihnachten glasige Augen bekommt, wenn ihm die Klasse einen Korb mit selbst gebastelten Geschenken präsentiert. Weil er die Freude darüber nicht verstecken kann und auch nicht will. Ein Held.
Schaut man sich um in den Sachbüchern und Leitartikeln der vergangenen Jahre zum Thema „Jungen“, dann wird einem angst und bange. „Jungen als Bildungsverlierer“, betitelt ein bekannter Jugendforscher sein Sachbuch. Ein anderer stellt fest: „Jungen brauchen klare Ansagen.“ „Die Jungen sind die Verlierer“, titelt der Focus. Und auch die ZEIT sorgt sich um die „Sorgenkinder“. Einen noch größeren Schrecken machen uns die Sachbücher zum Thema muslimische Jungen und Jugendliche. Ganz aktuell ein Titel: „Muslimisch, männlich, desintegriert: Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft“.
Obwohl es mehr männliche Schüler als weibliche gibt, sind Mädchen mit rund 52 Prozent an den Gymnasien in der Überzahl. Mehr Jungs gibt es dagegen auf Haupt-, Sonder- und Gemeinschaftsschulen. Mehr Mädchen machen Abitur, Jungs bleiben doppelt so häufig sitzen wie Mädchen. Woran das liegt? Unser Schulsystem belohnt Jungen, die sich wie „Mädchen“ verhalten. Abgesehen natürlich vom Sportunterricht. Wer da läuft und wirft „wie ein Mädchen“, wird ausgelacht und abgewertet. „Du Pussy!“ ist als Beleidigung nur minimal wenig kränkender als „Du Schwuchtel!“. Benehmen sich Jungen aber so, dass wir ihr Verhalten nicht sofort in eine Schublade einordnen können, behelfen wir uns mit ironischen Zuschreibungen wie „Nerd“ oder „Anti-Held“. Das Ergebnis: Jungen mit geringem Selbstwertgefühl und Jugendliche ohne Orientierung. Oder, wie es der Autor, Blogger und Vater Nils Pickert in seinem neuen Buch „Prinzessinnenjungs“ feststellt: „Jungen und Männer sitzen in der Falle und kommen weder vor noch zurück.“
Lassen wir den gesamten Bildungsbereich einmal außer Acht und blicken in die Spielzeugabteilung eines Kaufhauses. Oder in die Bücherregale einer Kinderbuchhandlung. Noch nie in der Geschichte der Kindheit wurden die Geschlechter so früh und so strikt durch äußerliche Geschlechterzuweisungen getrennt. Auf der einen Seite die sanften Rosa- und Pink-Töne, auf der anderen viel Blau und kriegerisches Spielzeug. Gefährliche Dinosaurier, Autos, Bagger, Waffen. Greift ein Junge zum Einhorn oder Tutu wird er im besten Fall schief angesehen. In der Regel greifen hier sofort die Mechanismen von Ausgrenzung und Beschämung. Denn unsere zarten und wilden, sanften und gutmütigen Jungen wachsen in eine gewalttätige und sexistische Gesellschaft hinein.
Ersetzen wir doch für einen Augenblick den Begriff „Junge“ durch „Mensch“. Das Bild vor unserem inneren Auge verändert sich sofort: Irgendwer wünscht sich also ein pinkes Einhorn. Und irgendein anderer Mensch trägt Tutu. Ist das eine Nachricht wert? Nö, oder? Es klingt umspannend und ist es auch.
In der Jungen-AG
Christian Hoffmann-Hoß ist Lehrer und engagiert sich mit großem Einsatz für die Jungen an seiner Schule. Seit 12 Jahren leitet er an der „Internationalen Gesamtschule Heidelberg“ die von ihm gegründete „Jungen-AG“. Eine Gruppe also, die nur Jungen aufnimmt. Klassenübergreifend und schulformübergreifend – aber eben nur für männliche Schüler. Die Idee kam ihm im Studium. Seitdem ist er überzeugt: Jungen brauchen eine eigene Erziehung. Mit Rückzugsorten, mit Kameradschaft, mit Projekten. Aber warum nur für Jungen?, fragen wir uns. „Jungen gehen im normalen Schulalltag unter“, erklärt Christian Hoffmann-Hoß. „Das viele Stillsitzen, die enge Taktung den gesamten Tag über, das alles widerspricht ihrem Bewegungsdrang. Jungen wollen sich auch mal frei bewegen können und das geht ja noch nicht mal im Sportunterricht. In der Jungen-AG treffen viele unterschiedliche Kinder aufeinander. Teilnehmen können sie ab der 5. Klasse. Für die Größeren gibt es eine eigene AG, die zurzeit ausläuft, da die meisten nach dem Realschulabschluss die Schule verlassen.
Die Fünf- und Sechsklässler treffen sich heute in der Mittagspause. „Was wollt ihr machen? Wozu habt ihr Lust?“, ruft der junge Lehrer in die Runde. „Fußball“, schreit einer, „Nein, Hockey!“, ein anderer. Die unterschiedlichsten Sportarten werden verlangt, bis man sich darauf einigt, die frisch reparierten Tischkicker aus dem Keller nach oben zu schleppen und eine Runde Tischkicker zu spielen. „Auch hier in der Gruppe sind die Jungen auf der Suche nach ihrer Rolle“, berichtet Hoffmann-Hoß. „Aber, wenn sie die gefunden haben, entsteht eine große Gemeinschaft. Und so wie die Mädchen die ganze Zeit in der Schule miteinander kuscheln und Händchen halten, so fangen auch die Jungen in der AG nach einer Weile an, sich zu umarmen, sich an den Händen zu halten … und zu raufen. Raufen ist bei uns nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht“, erklärt der Lehrer. „Aber natürlich passe ich auf, dass sich niemand verletzt.“ Das Highlight des Jahres in der Jungen-AG ist die Übernachtungsnacht in der Schule. Erst wird Pizza gebacken und ein Film geschaut und dann eine Nachtwanderung über den Berg und zurück über den Friedhof gemacht. Anschließend werden Matten rausgeholt und es wird geschlafen – oder eben gerauft.
„Nicht jeder Held trägt einen Umhang“
Während sich die jüngeren Schüler am liebsten immer bewegen wollen, entscheiden sich die Zehntklässler in der Regel für Gespräche. Über Politik, den Brexit, Umweltschutz, Klimawandel und über Mädchen. „Das geht viel besser, wenn kein Mädchen dabei ist“, erklärt er 15-jährige Nils. „Wir können viel offener reden.“ Ab und zu werden aber auch Mädchen eingeladen, zum Beispiel als es um das Thema Flirten ging. Zwei Klassenkameradinnen standen ihnen Rede und Antwort. „Was wollt ihr denn nun eigentlich genau?“, fragten die Jungen. „Wir sollen stark sein, aber trotzdem sensibel, ein Weichei wollt ihr ja auch nicht …“ Auch über Geschlechterrollen wird diskutiert mit dem Ergebnis: „Typisch Junge, typisch Mädchen, das gibt es nicht“. Besonders stolz aber sind die Zehntklässler auf die gemeinsam umgesetzten Projekte. Zum Beispiel auf das Spielhaus, das sie für den integrativen Kindergarten um die Ecke gebaut haben. Jeder konnte hier seine Stärke ausleben. Der eine beim Planen und Zeichnen, die anderen beim Bauen, Hämmern und Streichen. „Ich sehe die AG als einen Türöffner für Jungs in ihr Leben als Mann“, sagt Hoffmann-Hoß, denn das funktioniere nicht ohne Vorbilder. „An unserer Schule ist beinahe jede dritte Familie getrennt, viele Jungen wachsen nicht bei ihren leiblichen Vätern auf. Die Gefahr, dass diese Lücke mit Vorbildern aus dem Netz gefüllt werden, mit Rappern oder Youtubern ist groß. Jungen brauchen echte Vorbilder, um zu merken: ich bin cool, so wie ich bin. Nicht jeder Held trägt einen Umhang!“
Mit der Jungen-AG versuche er das aufzufangen und auszugleichen, was den Jungen fehle. „Vor allem auch diejenigen aufzufangen, die als C-Schüler* in die AG kommen. Die fühlen sich nämlich wie komplette Loser. Am Ende ihrer Schulzeit sollen alle Jungen ins Leben rausgehen mit dem Gefühl: Ich bin total okay, so wie ich bin. Egal ob ängstlich, mutig oder auch mal traurig. Und: ich kann etwas. Auch wenn ich nicht in allem der Beste bin.“
bw // Fotos: ifc
*Werkrealschüler, ehem. Hauptschüler Boy