In Deutschland kommen jedes Jahr rund 63000 Kinder zu früh zur Welt, 8000 von ihnen noch vor der 30. Schwangerschaftswoche. Eine normale Schwangerschaft dauert etwa 40 Wochen. Die Ursachen für Frühgeburten sind vielfältig. In den Entwicklungsländern sind es mangelnde Hygiene oder fehlende medizinische Betreuung. Dinge, die hierzulande keine Rolle spielen. Trotzdem ist auch bei uns die Frühgeborenenrate kaum niedriger. Nikotin und Alkoholgenuss, Infektionen, aber auch Übergewicht und nicht zuletzt späte Mutterschaft gelten als Ursachen, die eine Frühgeburt auslösen können.
Simone Engelhardt ist heute 36 Jahre alt. Als sie ihre Kinder bekam, war sie Mitte 20. Sie hat weder geraucht noch getrunken. Übergewicht hatte sie auch keins und war auch sonst kerngesund. Es gab also keinen „Grund“. „Man rechnet einfach nicht damit, dass man eine Frühgeburt bekommt, denn darüber spricht niemand“, sagt Simone Engelhardt heute.Neun Jahre nachdem ihr erster Sohn auf die Welt kam, in der 28. Schwangerschaftswoche, zwölf Wochen zu früh. „Ich habe gar nicht begriffen, dass das Wehen waren, was ich da plötzlich spürte. Zur Sicherheit fuhren sie und ihr Mann nach Heidelberg in die Frauenklinik.
Eine Stunde später lag die junge Frau auf dem OP-Tisch. Ihr Körper wollte das Kind nicht richtig versorgen, die Ärzte holten den Kleinen auf die Welt. „Mein erster Gedanke damals war: Das Kind ist tot.“ War es aber nicht. Es war ein Kämpfer. „Die Ärzte haben mich beruhigt, gesagt, dass die Überlebenschancen sehr gut seien.“
Es folgten zehn Wochen Klinikaufenthalt. Zehn Wochen bangen, hoffen, zehn Wochen voller Ängste, aber auch Wochen voller Schuldgefühle. „Man fragt sich, was man falsch gemacht hat“, sagt sie heute, wohlwissend, dass sie nichts falsch gemacht hat. Es sind Wochen in denen Engelhardt tagsüber bei ihrem Kind in der Klinik wacht, abends ohne Kind nach Hause geht, sich „unvollständig fühlt“ und auch auf viel Unverständnis stößt. „Was machst du denn den ganzen Tag da in der Klinik?“, ist eine Frage, die sie oft zu hören bekommt. „Ich bin bei meinem Kind, was denn sonst!“, ist ihre Antwort. Nicht alle verstehen das. Nach gut einem Jahr hatte Engelhardts erster Sohn „aufgeholt“. War in der Entwicklung ebenso weit wie gleichaltrige Kinder. Als Engelhardt erneut schwanger wurde, verschwendete sie keinen Gedanken daran, dass auch das zweite Kind zu früh kommen könnte. Die Ärzte sahen ebenfalls kein Risiko. Es hatte ja „keinen Grund“ gegeben für die erste Frühgeburt. Dann kam der Schock: In der 25. Schwangerschaftswoche musste das Kind geholt werden. Geburtsgewicht: 490 Gramm.
„Er war so klein wie ein kleines Vögelchen. Gerade mal eine Hand voll.“
17 Wochen blieb Simone Engelhardts zweiter Sohn in der Klinik. Für die Familie war das der absolute Ausnahmezustand. Der „Große“ – noch keine drei Jahre alt – musste von heute auf morgen die Tage im „Kinderplaneten“ verbringen. Eine Einrichtung der Klinik, in der tagsüber Geschwisterkinder von schwer kranken Kindern betreut werden. Simone Engelhardt wachte in der Intensivstation über ihr Kind, ihr Mann kümmerte sich um den Rest und „keiner durfte zusammenklappen“. Und danach, als der Kleine heim durfte? „Da ging es ja erst richtig los. Wir waren ausgerüstet, wie in einer Klinik. Ein Heimmonitor überwachte Herztöne und Atmung, eine Sauerstoffbombe sorgte
für ausreichend Sauerstoffsättigung, eine Magensonde ernährte das Kind.“ Es dauerte gut zwei Jahren, bis sich das Leben der Familie Engelhardt wieder weitgehend normalisierte.
Halt in dieser schwierigen Zeit fand die Familie auch im Verein „Das Frühchen e.V.“, ein Verein, der sich bereits vor 26 Jahren in Heidelberg gegründet hat. Es gibt zahlreiche solcher Vereine in vielen Städten Deutschlands. Für die betroffenen Eltern sind sie sehr wichtig, hier finden sie Austausch, Rat und Unterstützung. Seit 2012 hat der Heidelberger Verein aber ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Familien mit frühgeborenen Kindern werden seitdem von einer „Entwicklungsfördernden Neonatalbegleiterin“ beim Übergang vom Klinikaufenthalt in das Leben zuhause psychosozial unterstützt. Das Projekt ist bisher einmalig in Deutschland und für die Familien kostenfrei, es trägt sich ausschließlich durch Spenden.
Die Neonatalbegleiterin ist Simone Engelhardt. Ihren alten Job hat sie aufgegeben, ihr Schicksal und ihre Erfahrung quasi zum Beruf gemacht. In den vergangenen viereinhalb Jahren hat sie über 40 Familien im gesamten Einzugsgebiet der Heidelberger Kliniken intensiv betreut. Inzwischen ist sie, gemeinsam mit Marco Schad, Vorsitzende von „Frühchen e.v.“. Im Jahr 2013 wurde dem Verein für
das Projekt „Familienbegleitung der Ehrenamtspreis des Landes Baden-Württemberg verliehen. Ein erster Kontakt zu den betroffenen Eltern wird meist zur Entlassung aus der Klinik geknüpft. Mit einer auf den ersten Blick „Kleinigkeit“ – einem Begrüßungspaket für die Eltern,
abgestimmt auf ein frühgeborenes Kind. „Jede frischgebackene Mutter bekommt Geschenke, Glückwunschkarten, das ist ganz normal. Die Eltern sind oft ganz überrascht, wenn wir sie zu ihrem Kind beglückwünschen, ihnen etwas schenken, denn das passiert ihnen eher selten. Dabei sind doch auch diese Menschen Eltern geworden, haben ein Kind bekommen. Es ist nur zu früh gekommen.“
Die Arbeit von Simone Engelhardt beginnt, wenn die Kinder aus der Klinik entlassen werden, denn in der Klinik sind sie ja gut betreut. Aber hinterher, im Alltag, sind die Eltern allein. Es gibt Kinder mit schwereren motorischen Störungen, dort sind die Probleme offensichtlich.
Die Entwicklung von Frühgeborenen kann auch vollkommen problemlos verlaufen. Dazwischen gibt es viel Spielraum. Die meisten Frühgeborenen sind anfälliger für Infekte, sie haben oft Probleme mit ihrer Körperwahrnehmung und ihrem Selbstbewusstsein. Auch ADHS und ADS sind bei Frühgeborenen häufig verbreitet, oft zeigt sich Letzteres aber erst in der Schule. „Ein Kind kann bis zum Grundschulalter ganz normal entwickelt sein und dann gibt es auf einmal Probleme.“ Engelhardt führt das unter anderem auf die zahlreichen Störfaktoren zurück, denen die Gehirnentwicklung zu Beginn des Lebens dieser Kinder ausgesetzt ist. „Gerade die Tatsache, dass sich der Frontallappen im Gehirn erst im dritten Schwangerschaftstrimester entwickelt und die Kinder im Brutkasten mit negativen äußeren
Einflüssen konfrontiert sind, sorgt dafür, dass das Gehirn von Frühgeborenen anders entwickelt ist.“ Engelhardt weiß, dass man mit Therapien viel erreichen kann. Logopädie, Ergotherapie sind wichtige Bausteine. Ein weiterer Punkt ist die Ernährung. „Bei vielen Frühgeborenen ist das Thema Essen schwierig. Die Kinder wollen deshalb oft nicht trinken und später nicht oder nur wenig essen, bleiben auch oft kleiner, leichter als Gleichaltrige“, weiß Engelhardt aus eigener Erfahrung. Man muss versuchen, das Thema Ernährung für die
Kinder wieder positiv zu besetzen. Kein leichtes Unterfangen. Und dann gilt es auch als Eltern immer abzuwägen. Nicht jede vermeintlich abweichende Entwicklung ist auf die zu frühe Geburt zurückzuführen, gleichzeitig dürfen Eltern aber auch nichts an möglicher Förderung versäumen. „Es ist einfach ganz wichtig, dass die Eltern ihr Kind beobachten.“ Und vor allem eine Botschaft möchte Simone Engelhardt den
Eltern vermitteln: „Es gibt Dinge, die sind Schicksal. Und wir müssen lernen, diese Dinge zu akzeptieren und daraus das Beste zu machen.“
shy //Fotos: alsch/ Ingeborg Plodek
Der Verein „Das Frühchen e.V“ begleitet Familien mit Frühgeborenen, organisiert gemeinsame Aktivitäten, berät und unterstützt in allen Bereichen. Er finanziert sich ausschließlich durch Spenden. Weitere Infos, Kontakt und Spendenkonto: dasfruehchen.de