Mokassinkinder

Mokassinkinder

Helikoptereltern! Rabenmütter. Tyrannenkinder. Und jetzt auch noch Mokassinkinder?

Sophie beschimpft ihren Vater, der ihr nicht erlaubt,ihren Teddy mit auf den Spielplatz zu nehmen und schmeißt ihm Sand ins Gesicht. Noah ist ein intelligenter Junge und versagt trotzdem in der Schule. Er hat plötzlich vor allem Angst. Maxi kann Erwachsenen prima manipulieren, findet aber keine Freund und kommt in keiner Gruppe zurecht. Die 16-jährige Isabel schickt ihrer Mutter stündlich eine sms aus der Schule. Nachmittags geht die beiden shoppen, sie plaudern über Promis und Fernsehshows. Natürlich sind sie auch auf Facebook befreundet. Isabels Vater ist ebenfalls hingerissen von seiner Tochter. Seine einzige Sorge: „Mit wem sollen wir den ganzen Tag reden, wenn sie irgendwann auf die Uni geht?“. Unnötig zu erwähnen, dass Isabel auf der Uni überhaupt nicht klar kommt und unbedingt wieder nach Hause will.

Unterschiedliche Beispiele, unterschiedliche Kinder, unterschiedliche Altersstufen. Aber eines haben sie gemeinsam: Eltern, die alles für ihre Kinder machen. Und eine zu große Nähe pflegen, die auf Kosten der Kinder geht.

Wie kann aber„alles“ zu viel sein?  Und wünschen wir uns nicht alle eine innige Nähe zu unserem Kind?

In vier Kapiteln und anhand zahlreicher Fallbeispiele aus unterschiedlichen Familien, zeigt die amerikanische Autorin Krissy Pozatek auf, wie verzweifelt Eltern versuchen Konflikte, Nöte, Sorgen – alles mit negativen Gefühlen behaftete Situationen – von ihren Kindern fernzuhalten. Statt sie in der eigenständigen Lösung schwieriger Situationen zu unterstützen, nehmen diese Eltern, so genannte Helikoptereltern, die Lösung der Probleme auf sich. Das Ergebnis? Kinder die Angststörungen entwickeln, sich nichts zutrauen, verzweifelt sind, weil Kleinigkeiten nicht funktionieren. Und die natürlich im Umkerschluss auch ihre Eltern für alles verantwortlich machen, das schief läuft.

Für diese Situationen hat die Autorin – aus ihrer Erfahrung als Buddhistin und Wildnistherapeutin heraus – das Bild der Mokassins gefunden: Statt unseren Kindern die ganze Welt mit Leder (Liebe, Fürsorge, Gefühle) auszulegen und sie so vor allem Negativem, allen Stolpersteinen zu beschützen,  sollten Kinder lernen, sich aus diesem Leder eigenes Schuhwerk – Mokassins –  zu nähen.

„Wir sollten Unannehmlichkeiten als Geschenk annehmen!“

Statt ihre ganze Aufmerksamkeit auf das, was Eltern als Glück empfinden zu richten (denn Glück ist naturgemäß ein Zustand, der kommt und geht), empfiehlt Pozatek, Kindern  zu ermöglichen, mit ihren Sorgen, Ängsten Beschämungen und Konflikten zu leben. Bis diese wieder abklängen – oder die Kinder sich aktiv um Lösungen bemühten.

Kinder, die in die Schule, ins Leben, in die Selbständigkeit entlassen werden, ohne mit allen Emotionen vertraut zu sein, hätten keinerlei Ressourcen, um später mit schwierigen Situationen umzugehen, befürchtet Pozatek. „Ohne Mokassins sind Kinder ernsten Gefahren ausgesetzt: verspätete Reife, psychische Probleme, Leichtsinn, Impulsivität und selbstzerstörerisches Verhalten  – trotz des Behütetseins durch ihre Eltern – weil sie nicht wissen, wie sie sich selbst steuern und sich auf die wechselnden Lebenssituationen einstellen können.“

Weniger Fürsorge – mehr Sicherheit?

Die Folgen des Überbehütens und der symbiotischen Abhängigkeit zwischen Eltern und Kinder, seien aber nicht nur mangelnde Selbständigkeit, es könne Schulversagen, Depressionen und Verhaltensauffälligkeiten nach sich ziehen. Und in diesem Kontext wundert sich die Autorin: Warum zögerten die heutigen Eltern damit, die Kinder mit ihrem Verhalten zu konfrontieren? Warum nehmen sie lieber die Verantwortung für das Verhalten der Kinder auf sich – oder suchten die Verantwortung außerhalb der Kinder?

Viele Eltern, so die Autorin ihn ihrer Einleitung, seien nahezu erleichtert, für ihre verhaltensauffälligen Kinder eine handfeste Diagnose zu bekommen: ADHS, Angst-, Lernstörung. Statt sich damit abzufinden, dass ihr Kind gerade über geringe innere Ressourcen und Fähigkeiten zur Problembewältigung verfügt.  Es sei wie ein Reflex, die Verantwortung außerhalb der Kinder zu suchen.

Die „Mokassinkinder“ sind eine spannende Kombination aus Erziehungsratgeber, Elternbuch und ganz bestimmt ein Spiegel für die junge Akademiker-Mittelschicht, die die Erziehung ihrer Kinder nicht mehr vom Verhalten der Kinder, sondern von ihren Gefühlen abhängig macht. Und deren oberste Maxime ein permanenter, zufriedener Glückszustand ist.

Die Autorin Krissy Pozatek blickt auf eine langjährige Erfahrung als Wildnispädagogin zurück. Sie ist Elterncoach und Seminarleiterin. Ausgebildet in klinischer Sozialarbeit berät sie bei alltäglichen Familienproblemen bis hin zu Ängsten, Depressionen und traumatischen Erfahrungen.

Krissy Pozatek: Mokassinkinder. Mutig. Neugierig. Selbstbewusst.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl.
Beltz, Weinheim, 2015
16.95 Euro

 

4. März 2015