„Das ist meine Cousine, sie ist neun und sucht jemanden zum Ficken.“ Ein Satz, wie eine schallende Ohrfeige. Dieser Satz wurde mit dem Bild eines Kindes versendet. In der WhatsApp-Gruppe einer 6. Klasse an einer ganz normalen Schule, von ganz normalen Kindern, irgendwo in unserem Verbreitungsgebiet. Der Absender: Ein Schüler, die Cousine gibt es wirklich.
Eine Fünftklässlerin versendet im Klassenchat ein Bild ihres Schritts.
Eine 13-Jährige hat Oralverkehr mit einem zwei Jahre älteren Jungen und lässt sich dabei filmen. Der Junge verbreitet das Video im Netz.
Zwei Jungs verbreiten in einem Klassenchat hässliche Gerüchte über ein Mädchen. Ein anderes Mädchen macht freizügige Bilder von sich, schickt sie ihrem Freund. Kurze Zeit später ist „Schluss“, der Freund schickt die Bilder aus Rache an die ganze Schulklasse. Das Mädchen ist irgendwann so verzweifelt, dass sie die Schule wechselt. Es dauert kein halbes Jahr, dann sind die Bilder auch an der neuen Schule angekommen.
Das sind extreme Beispiele dafür, wie die Nutzung eines an sich harmlosen Nachrichtendienstes vollkommen aus dem Ruder laufen kann. Unbeachtet von Eltern, die oftmals keine Ahnung haben, was ihre Kinder Tag für Tag mit ihrem Smartphone anstellen, unbeachtet von Lehrern, die sich darum nicht auch noch kümmern können oder wollen, weil ihnen Zeit oder technisches Know-how fehlen. Und im schlimmsten Fall schweigen die Kinder – aus Angst oder Scham.
Mobbing in Schulklassen hat es immer gegeben. Mobbing im Netz ist eine Steigerung davon. Oft geht beides Hand in Hand. „Der Großteil der Mobbing-Opfer ist zwischen 11 und 16 Jahre alt, also in der Pubertät, in der Kinder und Jugendliche besonders anfällig für seelische Verletzungen sind. Betroffen sind dabei vor allem jene, die auch im realen Leben aufgrund ihrer Figur oder ihres Aussehens stigmatisiert werden, oder Menschen, die sich durch ihre Sprache und Nationalität unterscheiden“, schreibt die Seite cybermobbing-hilfe.de.
Laut der Jim-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbandes Südwest von 2015 besitzen 98 Prozent aller 12- bis 19-Jährigen ein Smartphone und können entsprechend online gehen. Genau so viele haben einen eigenen Computer oder ein Laptop.
Während sich Eltern langsam mit Facebook anfreunden, sind ihnen die Kinder längst schon wieder fünf Schritte voraus. Sie nutzen Facebook kaum noch, bewegen sich lieber auf Instagram oder entdecken gerade Snapchat. Und: WhatsApp ist aktuell die Kommunikationsplattform, auf der sich schon Zehnjährige im Klassenchat treffen. Die Schüler tauschen sich aus über Hausaufgaben, schreiben sich witzige Nachrichten, senden lustige Fotos und Emojis. Das frisst Zeit, ist aber harmlos.
Vor 20 Jahren haben sich die Jugendlichen stundenlang mit dem Telefon in der Toilette eingeschlossen, um mit der besten Freundin zu kichern – das Kabel kompliziert unter der Tür durchgewurstelt. Eltern hatten damals wenig Verständnis, auch wegen der Telefonrechnung. Heute ist eben WhatsApp der Weg der Kommunikation. Gefährlich wird es dann, wenn Kinder nicht lernen, wie sie mit dem Nachrichtendienst umzugehen haben, wenn sie zu viel von sich preis geben, wenn sie sich im Ton vergreifen, wenn sie Opfer werden oder Täter.
Natürlich gibt es auch Eltern, die ihre Kinder kontrollieren, die verfolgen, was sie da mit ihren Mobiltelefonen anstellen, sich auch mal einen Chatverlauf zeigen lassen. „Aber das sind die Wenigsten“, erzählt eine Lehrerin der StadtLandKind-Redaktion. Wir nennen sie Frau Müller*, sie heißt eigentlich anders. Frau Müller ist nicht nur Lehrerin, sondern auch Mutter von zwei Kindern, und sie macht sich Sorgen. „Die meisten wissen nicht, was ihre Kinder in Chats schreiben, sie geben keine Hilfestellung, informieren viel zu wenig über die Gefahren im Internet“, sagt sie. Warum? „Weil die Eltern selber oft keine Ahnung haben. Weil es bequem ist, das Kind am Smartphone sitzen zu lassen. Weil sie das Kind in Sicherheit wähnen, solange es nur in seinem Zimmer sitzt.“
Frau Müller findet das unverantwortlich. Sie fordert, dass Eltern und Schulen ihrer Pflicht nachkommen, sich mit den Dingen zu befassen und ihre Kinder zu kontrollieren. Der Nachrichtendienst WhatsApp ist eigentlich erst ab 16 Jahren zugelassen. Viele Eltern wissen das gar nicht. Sie laden bedenkenlos ihren Zehnjährigen die App aufs Smartphone und lassen sie dann damit allein. Das birgt Gefahren. Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die, mal aus Spaß, mal aus Geltungsbedürfnis, Nacktbilder per WhatsApp versenden. Werden diese Bilder dann von anderen weiter versendet, hat nicht nur jenes Kind ein Problem, das auf dem Bild abgebildet ist. Werden die Bilder der Kinderpornografie zugerechnet, zeigen sie also Geschlechtsorgane oder eindeutige Handlungen von Menschen unter 14 Jahren, kann sich jeder, der die Bilder weiterleitet, strafbar machen. Natürlich sind auch das extreme Beispiele und nicht die Regel. Viele Eltern mögen nun spontan reagieren, indem sie WhatsApp einfach verbieten. Schließlich brauchen das doch Zehnjährige auch gar nicht.
Verbieten ist keine Lösung
Ist das die Lösung?
Peter Plattmann ist Präventionslehrer am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Weinheim (DBS) und sagt „nein“. „Verbieten bringt gar nichts, und das Argument, dass man das alles nicht braucht, zieht nicht. Theoretisch brauchen wir nur etwas zu essen und eine Höhle. Praktisch haben wir aber nun mal deutlich mehr Annehmlichkeiten. Wir müssen darauf reagieren und aufklären und dürfen uns nicht verschließen.“
Diese Aufklärung findet an der DBS auf vielfachen Wegen statt. Es gibt – wie an zahlreichen Schulen – Elternabende, in denen über Mediennutzung informiert wird. Plattmann berichtet: „Es gibt Eltern, die haben Angst, dass ihr Kind Gewaltpornos im Internet sehen könnte. Sie glauben, wenn ihr Kind kein Handy hat, nicht ins Internet darf, dann ist das Problem gelöst. Dann kommen sie mit all diesen Dingen nicht in Kontakt. Das ist ein Irrglaube.
Danngehen sie eben zu einem Freund und sehen es dort.“ Sein Credo: Die Kinder müssen aufgeklärt werden. Die Eltern auch. An der DBS geht man deshalb noch einen Schritt weiter: Hier findet Aufklärung nicht nur durch die Lehrer, sondern auch durch Schüler statt.
Viele Viertklässler haben schon Pornos auf dem Handy gesehen
Jakob, Paul, Malte, Ivan, Fred und Lisa sind Streitschlichter und Medienscouts an der DBS. Sie erklären jüngeren Schülern, welche Regeln bei der Nutzung von Handys und Internet zu beachten sind, sie suchen aber auch nach Lösungen, wenn einzelne Schüler geärgert oder gar gemobbt werden – auf Augenhöhe. Ist das wirklich schon in der 4. Klasse notwendig? „Ja“, sind sich die Schüler einig. „Viele von den Kindern haben in der 4. schon Pornos auf dem Handy gesehen“, erzählt Ivan und „es gibt eigentlich keine Klasse, in der es nicht irgendwann mal Probleme mit Mobbing über WhatsApp gab.“ Paul: „Mobbing hat es immer gegeben. Das ist klar. Es gab schon immer in jeder Klasse irgendeinen Schüler oder ein paar Schüler, die ausgeschlossen wurden, die mit den anderen nicht zurechtkamen. Mobbing ist schlimm. Aber Cybermobbing ist schlimmer.“„Es ist deshalb so schlimm, weil man dem nicht entfliehen kann“, sagt Ivan. Früher konnte man nach Hause gehen und das ausblenden. Man hatte einen geschützten Raum. „Dieser Schutz ist heute weg. Wenn Mobbing über WhatsApp stattfindet, dann ist es allgegenwärtig. Und es hört niemals auf. Bilder, die einmal im Netz sind, verschwinden nie mehr“, sagt er ernst.
Die DBS-Medienscouts sind alle um die 15 Jahre alt. Sie sind jung, sie sind mittendrin, und trotzdem sind selbst sie schon wieder einen Schritt hintendran. „In der 4. hatten wir alle noch kein Handy. WhatsApp nutzen die meisten von uns erst seit der 6., heute ist das alles viel früher“, sagen sie unisono. Eine Altersbeschränkung für WhatsApp lehnen die Schüler trotzdem ab. „Das ist doch nicht vom Alter abhängig, ob man damit umgehen kann, sondern von der Person“, sagt Fred. Sie halten auch grundsätzlich nichts davon, dass Eltern den Chatverlauf der Kinder kontrollieren sollten. „Es mag Ausnahmen geben. Wenn ich als Mutter oder Vater Sorge habe, dass da etwas Bedenkliches abläuft, kann das in Ordnung sein, vom Kind zu verlangen, mal reinzugucken. Aber ich würde nicht wollen, dass meine Eltern meine Chats mit Freunden lesen“, sagt Fred. Auch die anderen fänden das unpassend. „Unsere Eltern müssen uns vertrauen.“
Einig sind sich alle darin, dass die Eltern mit den Kindern im Gespräch bleiben müssen, dass sie nachfragen, sich interessieren. Einig sind sie sich aber auch darüber: „Wer kein WhatsApp hat, ist raus.“ Der kriege nichts mit, verpasse Verabredungen. Und welche Eltern wollen schon, dass ihr Kind ausgeschlossen wird? Lisa findet trotzdem, dass „ein Stück Kindheit verloren geht“ und alle nicken. „Wir haben uns früher auf dem Spielplatz verabredet und einfach getroffen. Heute ist das ein endloses Hin und Her im Chat, bis man endlich zu irgendeiner Verabredung findet. Manchmal fällt die Verabredung dann gleich ganz aus, und alle bleiben daheim und chatten weiter“, sagen die Schüler und geben zu, dass sie bisweilen ganz schön genervt sind von nicht endenden Chats.
Deshalb haben sich die meisten der Jugendlichen Medienscouts aus einer Vielzahl von Chats schon wieder verabschiedet. „Zu mühsam. Zu nervig“, sagt Ivan und einige nicken.“ Es scheint also, als sei das alles nur eine Phase, die wieder vergeht. Der Gedanke beruhigt. Andererseits ist es eine Phase, durch die Eltern ihre Kinder sicher begleiten müssen, damit sie diese Phase unbeschadet überstehen. Mit möglichst wenig Schäden und bitte ohne Nacktbilder im Netz.
Text: Sarah Hinney
Fotos: fk, fotolia
*(Name ist der Redaktion bekannt)
Mit diesen „Verhaltensregeln im Netz“ gehen die Medienscouts der DBS in die Schulklassen. Sie gelten übrigens nicht nur für Kinder.
- Veröffentliche keine zu persönlichen Daten
- Stifte niemanden dazu an, Nacktfotos zu verschicken und schicke auch selber keine Bilder.
- Beleidige nicht. Auch nicht Zurückbeleidigen. Auf der anderen Seite sitzt ein Mensch, wie Du.
- Achte auf Rechtschreibung und Grammatik. Nicht alles muss richtig sein, aber verständlich.
- Schreibe nur Sachen im Netz, welche Du auch auf deinem T-Shirt stehen haben könntest, ohne Ärger zu bekommen.
- Benutze keine Capslog und übertriebene Zeichensetzung.
- Nerve nicht andere und überlege, was Du sendest und schreibst.
- Hol dir im Notfall Hilfe bei Erwachsenen.
- Handy beim Essen weg. Gilt auch für Eltern.
- Bei einem Streit sollte man es persönlich klären.
Hilfe, mein Kind wird gemobbt. Ein anderes Kind wird gemobbt. Ich werde gemobbt. Was tun?
- Was immer hilft: Die telefonische Hilfe-Hotline Nummer gegen Kummer für Kinder, Jugendliche und Eltern.
- Telefonische Beratung für Kinder und Jugendliche: 0800 1110333
- Telefonische Beratung für Eltern: 0800 1110550
- Im Netz: www.nummergegenkummer.de
- Online-Beratung für Jugendliche und Eltern von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung: www.bke.de
- Beratung für Jugendliche durch andere Jugendliche: www.juuuport.de
- Unterrichtsmaterial und Links gibt es unter anderem auf der Internetseite: www.klicksafe.de
- Eine Seite, die Peter Plattmann ganz besonders am Herzen liegt, ist außerdem die Internetplattform www.handysektor.de. Diese Seite eignet sich für Schüler, Eltern und Lehrer. Die Medienscouts der DBS wurden übrigens von Handysektor in Zusammenarbeit mit der Landesmedienanstalt ausgebildet.