Wenn Mütter ins Gefängnis müssen, werden die Kinder bestraft. Vor allem, wenn sie in Pflegefamilien oder ins Heim kommen. In Deutschland gibt es zehn Einrichtungen, die straffällig gewordene Mütter gemeinsam mit ihren Kindern aufnehmen. Unter der Bedingung, dass die Strafe der Mutter vor der Einschulung des Kindes abgegolten ist und die Mutter keine akute Suchtproblematik hat. Das Mutter-Kind-Heim der Frankfurter JVA ist eine dieser Institutionen. Unsere Autorin war für einen Tag dort, im offenen und auch im geschlossenen Vollzug und hat Mütter und Kinder durch den Alltag begleitet.
Jede Geschichte beginnt mit einem Wort. Manche Geschichten beginnen mit einem Weg. Andere beginnen in einer kalten Nacht vor einer Mauer mit Stacheldraht. Manche beginnen mit einem Raubüberfall – mit dem Kind auf dem Rücksitz. Diese Geschichte beginnt mit einem Paragrafen* und mit einem Satz:
„Du muss die Tür sssumachen!“
???
„Die Tür! Mach sie sssuuu!“
Es ist ein früher, dunkler Morgen. Wir sind in Frankfurt. Haben die volle Autobahn hinter uns gelassen. Den Stacheldraht, die Mauern. Haben das Handy abgegeben, durften beim Frühstück dabei sein. Zurzeit befinden wir uns in der Kindergruppe, der hauseigenen Kita für alle Kinder.
„Welche Tür genau?“
Vor uns steht die dreijährige Rana (sämtliche Namen der Betroffenen und ihrer Kinder von der Redaktion geändert). Vorwurfsvoll zeigt sie an uns vorbei. Tatsächlich. Eine offene Tür. Schnell eilt Rana zu der in freundlichem Blau gestrichenen Tür und schließt sie nachdrücklich. Uns fällt an diesem Tag immer wieder auf, wie sehr die Kinder und ihre Mütter um Anpassung und die strikte Befolgung
der Anstaltsregeln bemüht sind. Jaden und Lina liegen auf der Krabbeldecke. Jaden hat Linas Hosenträger entdeckt. Hingebungsvoll saugt er daran. Die „großen“ Kinder spielen in dem neu gestalteten Spiel- und Kletterelement. Selma fährt eine Puppe spazieren. Julia und Anna spielen Rollenspiele. „Frau Müller, einmal zur Außenpforte!“
11 Uhr. Es gibt Mittagessen. Acht Kinder zwischen sechs Monaten und fünf Jahren sitzen brav auf bunten Stühlen und essen oder werden von drei Erzieherinnen gefüttert. Julia hantiert gekonnt mit Messer und Gabel und will dreimal Nachschlag von dem leckeren Kartoffelbrei. Ben will heute nichts essen. Er sei traurig erklärt Julia. Er vermisse seine Mama. Die ist gerade mit der neu geborenen Schwester unterwegs. Frauen, die im offenen Vollzug sind und gerade nicht arbeiten, dürfen sich frei bewegen. Um 16.30 Uhr kommen die Kinder aus Krippe und Kindergarten. Wo und wie die Mütter mit ihren Kindern zu Abend essen, ist ihnen überlassen. Um 19.30 Uhr müssen alle wieder „zuhause“ sein. Im Mütter-Kind-Heim, dem Ort ohne Namen. Die Kinder nehmen das Gefängnis nicht als Gefängnis war. Aber auch nicht als Zuhause. Es ist innerhalb der Familien ein namenloser Ort.
„Fahren wir jetzt wieder in den Urlaub zurück?“ fragen die Schwestern Samia und Rana nach einem Ausflug.
„Jetzt gehen wir wieder rein“, nennt es der vierjährige Tom. „Rein“ ist da, wo sie wohnen und sich auskennen. Nur einmal, als Tom zurück in den geschlossenen Vollzug zu seiner Mutter gebracht wurde, sah er erstaunt zu einem der ältesten Gebäude des mächtigen Gebäudekomplexes hinüber und zeigte quer durch den Stacheldraht:
„Da steht ja ein Gefängnis!“
Die Strafvollzugsanstalt in Frankfurt-Preungesheim ist über 100 Jahre alt und das größte Frauengefängnis in Deutschland. Zwei Mutter-Kind-Heime mit insgesamt 23 Plätzen wurden hier vor 20 Jahren für zwei Millionen Mark gebaut. Fünf Plätze im geschlossenen Vollzug, 18 im offenen Bereich. Zurzeit sind im geschlossenen Mutter-Kind-Heim sieben Frauen mit neun Kindern untergebracht. „Wir sind deutlich überbelegt“, erklärt Abteilungsleiter Klaus Hermes. Die geschlossene Abteilung ist zweistöckig aufgebaut, kleine Zimmer-Zellen mit Stuhl, Bett, Schrank, eine Gemeinschaftsküche. Eine Mutter hat ihr Baby im Kinderwagen neben sich. Bis die Kinder sechs Monate alt sind, werden sie von den Müttern betreut. Anschließend kommen sie in die Kindergruppe des offenen Vollzugs. Täglich von 7.30 bis 15.30 Uhr. Den Rest des Tages verbringen die Mütter mit den Kindern. Entweder im Spiel- oder Fernsehzimmer – oder außerhalb auf dem kleinen Spielplatz. Der natürlich von – bunt bemalten – Mauern umgeben ist.
Erzieherin Alexandra Knickmeier kommt mit dem knapp sechsmonatigen Louis zurück vom Kinderarzt. Die Mutter stammt aus Kenia und spricht nur Englisch. Fragend nimmt sie ihr Kind wieder in Empfang. „Das ist eine der schwierigsten Situationen“, erklärt Knickmeier. „Wenn die Kinder krank sind, müssen wir mit der Diagnose der Mutter und dem Kind zum Kinderarzt fahren. Dort bekommen wir eine andere Diagnose, die müssen wir dann der Mutter erklären. Oft kommt es in solchen Situationen zu Konflikten.“ Der kleine Louis hat Neurodermitis, offene wunde Hautstellen im Gesicht. Eine Krankheit, die in Kenia nahezu unbekannt ist. Die Mutter hatte den Kleinen täglich gebadet, so wie sie es auch in Kenia gemacht hätte. Ihr zu erklären, was Neurodermitis ist und was sie dagegen machen muss, wird nicht leicht.
Die Tür zur Nachbarzelle steht offen, obwohl hier ein Neugeborenes mit seiner Mutter liegt. Schwangere werden für die Dauer der Geburt unter Bewachung ins Frankfurter Uniklinikum gefahren. Anschließend geht es sofort zurück in die JVA. Die junge Mutter sieht ratlos und erschöpft aus, ihre Gesichtszüge sind noch wie verwaschen von den Anstrengungen der Geburt. „War die Hebamme schon hier? Klaus Hermes fällt das englische Wort für Hebamme nicht gleich ein. Der kleine Santiago schläft tief und fest. Nur seine Augenlieder zittern ganz zart.
Im offenen Vollzug kommen drei Mütter von Ausflügen in die Stadt zurück. An der Pforte wird ihr „Zeitkontingent“ überprüft. Wer länger weggeblieben ist als erlaubt, wird zur Rede gestellt. Die Mütter müssen ihre Handys an der Pforte einschließen, eine junge Frau fragt nach einem Antrag. Sie will übers Wochenende nach Hause fahren. Bezahlt wird die Unterbringung der Kinder von den Jugendämtern. Und die müssen dem vor Antritt der Haft auch zustimmen.
Die Diskussion, ob es Sinn macht, Kinder gemeinsam mit ihren Müttern ins Gefängnis zu schicken, wird nicht nur in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. „Auch intern ist die Frage oft Thema“, erzählt Knickmeier, die seit 2008 in der JVA beschäftigt ist. „Vor allem, wenn wir uns nicht sicher sind, ob der Mutter das Baby nach der Entlassung nicht weggenommen wird, weil sie es nicht versorgen kann. Vor kurzem mussten wir eine psychisch kranke Frau mit Gewalt von ihrem Kind trennen. Das war schrecklich. Zum Glück konnte das Kind zum Vater.“
Für die Kinder aus dem geschlossenen Vollzug sind die Erzieherinnen die Verbindung zur Welt. Die Kinder machen sämtliche Erfahrungen ohne ihre Mütter. Das erste Mal Eis essen, das erste Mal auf der Rolltreppe fahren. Ein langer warmer Sommertag auf dem Wasserspielplatz … „Wir machen regelmäßig Ausflüge. Die Kinder sollen sich ja an die Welt da draußen gewöhnen!“, erklärt die Erzieherin.
So wie die JVA den Tagesverlauf vorgibt, so bestimmt sie auch die Leitlinien der Erziehung. Viele Mütter wurden in der Vergangenheit selbst geschlagen und sehen Schlagen als ein legitimiertes Mittel der Erziehung. Doch das ist in der JVA streng verboten. „Wir versuchen natürlich soweit es geht auf die kulturellen und persönlichen Hintergründe der Mütter Rücksicht zu nehmen“, erklärt Klaus Hermes. „Aber in erster Linie geht es hier um das Kindeswohl. Das geht immer vor. Die Kinder sollen ja nicht für die Taten der Eltern bestraft werden, sondern einen möglichst guten Start ins Leben haben.“
„Die Kinder sollen einen möglichst guten Start ins Leben haben“
Dazu gehört auch, dass die Zeit nach der Haft sorgfältig vorbereitet wird. Die JVA hilft den Müttern bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Zudem muss in der Haft eine Ausbildung oder irgendeine Art der Qualifikation erworben werden. „Viele Frauen erleben im Gefängnis zum ersten Mal eine Tagesstruktur mit ihren Kindern, eine vernünftige Lebensführung mit regelmäßigen Ess- und Schlafenszeiten, und auch das sinnstiftende Element der Arbeit. Die Befriedigung, etwas zu leisten und dafür bezahlt zu werden!“, erläutert Hermes. Zu einer gelungenen Resozialisierung gehört auch, dass die Inhaftierten immer wieder motiviert werden, über ihre Tat zu sprechen. „Das ist bei den meisten sehr unbeliebt. Einer Auseinandersetzung mit der Straftat würden sie am liebsten ausweichen. Und viele verweigern sich auch komplett. Zwingen kann man natürlich niemanden. „Doch nur durch die Beschäftigung mit der eigenen Schuld kann letztendlich Empathie mit dem Opfer entwickelt werden“, ist sich der Abteilungsleiter sicher.
„Am 4. Juni 2013.“
Tanja R. antwortet ohne Zögern, wenn sie nach dem Tag ihrer Ankunft im geschlossenen Vollzug der JVA Frankfurt gefragt wird. Die junge Frau sitzt uns gegenüber am blitzblanken Esstisch. Bis eben hat sie in der „Kinderküche“ gearbeitet. Das Mittagessen gekocht und vorbereitet, den Tisch abgeräumt, die Küche geputzt. Die junge Frau trägt dezente Piercings, lange Haare… sie sieht nett aus, so normal irgendwie.
Tanja R. wurde wegen Raubes zu drei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Bis November 2014 war die 26-Jährige im geschlossenen Vollzug. Jeden Morgen wurde ihr Sohn von der Erzieherin abgeholt und mit dem Bus in die Krippe gefahren. Das war hart für die Mutter, aber auch für den knapp zweijährigen Anton. „Er kam damit überhaupt nicht klar. Vorher waren wir den ganzen Tag zusammen – plötzlich mussten wir uns an Regeln halten, ich musste arbeiten und er in die Krippe.“ Anton hatte ständig Wutanfälle. Eine schwierige Zeit. Die ist zum Glück vorbei. Inzwischen ist Tanja im offenen Vollzug, ihr Sohn geht in einen öffentlichen Kindergarten. Hingebracht und abgeholt wird er von ihr.
Wissen die anderen Kinder im Kindergarten wo er lebt?
„Die Erzieherinnen sind eingeweiht.“
Und die Mütter?
„Bis jetzt hat mich keine darauf angesprochen. Aber ich würde nicht lügen. Ich werde auch mein Kind nicht anlügen. Wenn es mich fragt, wo wir hier sind, werde ich es ihm sagen. Ich habe Mist gebaut und werde dafür bestraft. Besser, als dass er die Wahrheit von einem anderen Kind erfährt.“
Gab es keine Alternative? Das Kind bei Verwandten unterzubringen?
„Der Gedanke war da“, … Tanja überlegt. „Ich hätte ihn gern bei meinem Bruder gelassen. Aber der wollte oder konnte ihn nicht nehmen.“
Und in eine Pflegefamilie?
„Niemals! Das kommt nicht infrage! Aus Angst, mein Kind zu verlieren, bin ich damals direkt nach dem Urteil nach Spanien abgehauen. Ich wollte mich bei Freunden verstecken. Ich konnte nicht glauben, dass es so einen Ort gibt. Ein Gefängnis, in dem man seine Kinder behalten darf. Ich konnte es nicht glauben, obwohl ich es ja eigentlich wusste. Ich war so fertig mit den Nerven, dass ich gar nichts mehr glauben konnte. Ich dachte, alle belügen mich, um mir mein Kind wegzunehmen.“
Wie konnte es so weit kommen, die Situation so eskalieren? Tja, wann fing das an …? Vielleicht, als Tanja in der Elternzeit war, alleinerziehend, mit finanziellen Problemen: „Ich hatte große Mietrückstände. Ich wusste nicht mehr weiter. Ich bin von einem Amt zum anderen gerannt, habe um Hilfe gebettelt. Und dann kam ein Haftbefehl, plus Räumungsklage. Ich war verzweifelt. Am Boden.“
Und dann?
„Dann haben mich „Freunde“ gefragt, ob ich mitmachen will.“
Wobei mitmachen?
„Bei dem Raub.“
Eine Bank?
„Eine Spielhalle. Sie brauchten einen Fahrer. Sie wussten, ich hatte große Geldsorgen und ich konnte Autofahren.“
Und dann?
„Der erste Versuch ging schief. Beim zweiten hat es geklappt.“
Bei einem Raub bedroht man Menschen mit Waffen …?
„Wir hatten eine Spielzeugpistole dabei. Keine echte Waffe. Das war meine Bedingung. Ich wollte auf keinen Fall, dass jemand verletzt wird.“
Und das Baby?
„Beim ersten Mal hatte ich einen Babysitter, eine Freundin.“
Und beim zweiten Mal?
„Da hat der Babysitter bei dem Raub mitgemacht. Und mein Sohn war auch dabei.“
In dem Auto?
„Ja, auf dem Rücksitz. Im Maxi-Cosy. Der Babysitter hat mich dann am Ende verpfiffen.“
Und die Beute?
„Die hat der Babysitter durchgebracht. Ich glaube, das war der dümmste Raub aller Zeiten.“
Tanjas Bruder überzeugte die junge Frau damals, aus Spanien zurückzukommen und ihre Strafe anzutreten. „Er gab mir sein Wort, dass ich mein Kind nicht verliere. Da bin ich zurückgekommen. Das war die beste Entscheidung meines Lebens.“
Im Sommer des kommenden Jahres wird Tanja R. entlassen. Dann ist Anton fünf Jahre alt und kann in Freiheit eingeschult werden. Einen neuen Partner hat die junge Frau auch gefunden – schon vor der Haft. Er wusste von allem und steht zu ihr. Anton nennt ihn Papa. Manche Geschichten enden erst im Gefängnis und gehen dann doch gut aus. So wie diese.
Bettina Wolf // Foto: Simon Hofmann
* §§ 80, 142 StVollzG:
Ist das Kind einer Gefangenen noch nicht schulpflichtig, so kann es (…) in der Vollzugsanstalt untergebracht werden, in der sich seine Mutter befindet, wenn dies seinem Wohl entspricht.