Ich kann es ganz deutlich durch das gekippte Fenster hören und im ersten Moment erschrecke ich sogar kurz. „Aaaaaaankiiiii“, ruft eine sehr junge, aber kraftvolle Stimme am Samstagmorgen unten auf der Straße, sodass ich sie in meiner Wohnung hören kann. Ich bin mir sicher, sie kneift dabei die Augen zusammen und stellt sich auf die Zehenspitzen. Ich stecke den Kopf aus dem Fenster – und ich liege mit meiner Vermutung richtig.
Ich: „Pauli, wie geht’s dir?“
Pauli: „Darf ich hochkommen?“
Na klar darf sie. Im Nullkommanichts steht sie mit einer fast leeren Popcorntüte in der Hand, roten Bäckchen und ein bisschen aus der Puste vor meiner Tür.
Pauli (stolz): „Ich hab‘ die Stufen gezählt.“
Ich: „Und wie viele sind es?“
Pauli: „Hab‘ ich vergessen, aber zehn, glaub ich.“
Ich: „Es sind sogar ein paar mehr. Irgendwann zähle ich sie mal für dich.“
Ein paar Treppenstufen und Popcornteilchen weiter unten kommen Tina und Luisa um die Ecke. Wenig später sitzen wir alle in Socken auf dem Wohnzimmerboden, essen Popcorn bis man den Boden der Tüte sehen kann, spielen, packen noch das letzte Geschenk vom Weihnachtsmann aus und ziehen Paulis Puppe „Nonno“ ihren kleinen Schal an und aus und an und aus und … „Sie soll sich nicht erkälten“, sagt Pauli fürsorglich – wo sie recht hat … die kleinen Puppenschuhe stellt sie sorgfältig neben ihre und die ihrer kleinen Schwester Luisa. Nach einem großen Schluck Orangensaft schaut sie mich mit einem fragenden Blick an.
Pauli: „Warum bist Du noch im Schlafanzug?“
Ähm, ich schaue an mir herunter und realisiere, dass ich tatsächlich in einem T-Shirt neben ihr sitze, auf dem ein überdimensional großes Bambi zu sehen ist. Na super, jetzt fühle ich mich irgendwie schlecht, schließlich sitzt sie im Matrosenkleid vor mir. Aber hey, es ist Samstagmorgen, ich hab‘ frei und mein Besuch kam überraschend – das müsste eigentlich Erklärung genug sein. Und Pauli nickt alles, was ich ihr erkläre ab, sogar das Bambi-Shirt. „Das passt zu meinem Armband. Guck‘, da ist ein Einhorn drauf“, sagt sie stolz. Wie gut, dass mein Besuch erst vier Jahre alt ist, niemand anderes wie sie würde sich so sehr über mein Disney-Shirt freuen … Glück gehabt.
Von Besuch zu Besuch fragt Paulina immer mehr, möchte immer mehr wissen, hört genau zu, sagt worauf sie Lust hat. Ein kleiner Schnelldurchlauf des besagten Samstagmorgen? Bitteschön: „Zeigst Du mir, wie man eine Schleife macht?“, „Kannst Du Nonno die Schuhe wieder anziehen?“, „Ich möchte gerne etwas malen“, „Schau mal, wie viel ich schon getrunken habe“, „Luisa, pass auf, dass Du nicht hinfällst“, „Ich mache jetzt Zumba“, „Mama, mogelst du?“…
Während sich Paulina die Welt so macht, wie sie ihr gefällt, eifert ihr die kleine Schwester nach. Dreht sich Pauli im Kreis und tanzt, dann kann man sicher davon ausgehen, dass auch Luisa einen Augenblick später das „Tanzparkett“ betritt. Lacht Pauli, dann auch Luisa.
Tina: „Das ist, glaube ich, ganz normal, dass die kleinen Geschwister den großen nacheifern. Aber sie sind wirklich ein Herz und eine Seele, auch wenn das abgedroschen klingt.“
Immer mehr und immer öfter spielen die beiden Schwestern auch gemeinsam. Dann wird die Welt erklärt (Paulina: „Luisa, Du musst das so machen“), sie gemeinsam erkundet (Paulina: „Guck‘ mal, komm‘ mal schnell“) und neue Pläne werden geschmiedet (Paulina: „Lass‘ uns das machen“). Eigentlich fast genauso wie bei Tina und mir.
Der Besuch dauert nicht lange, ist dafür aber umso schöner. Wenig später stehe ich im Bad, „Bambi“ zwinkert mir aus dem Spiegel zu und ich ziehe mir zwei Popcornteilchen aus den Haaren. Es war ein Samstagmorgen wie ich ihn nicht missen möchte. Und übrigens, Pauli: Es sind genau 65 Stufen. Beim nächsten Mal bist du wieder dran mit Zählen.
Von Ann-Kathrin Weber
Über die Autorin:
Redakteurin Ann-Kathrin Weber hat zwar selbst noch keine Kinder, schreibt aber besonders gern über Kinderthemen. Für StadtLandKind hat sie ihre Freundin Tina durch die Schwangerschaft begleitet und besucht Paulina und ihre Eltern einmal im Monat für uns.