Fenster bemalen ist toll. Aber fehlt hier nicht noch etwas Farbe?
Ich biege um die Ecke und suche Tina zwischen den vielen Menschen, die sich in ihrem Garten befinden. Mitten unter ihnen, zwischen Grill und Bierzeltgarnituren, entdecke ich sie. Sie trägt Paulina auf dem Arm, die ihre Mama, die an diesem Tag das Geburtstagskind ist, am liebsten gar nicht mehr loslassen möchte. Nach vielen „Hallos“ und „Wie geht’s“, gelange ich schließlich zu den beiden und Tina nimmt mich mit ins Wohnzimmer. Dort ist es ruhiger und wir nehmen uns ein paar Minuten Zeit. So bekomme ich zuerst ein Küsschen von Paulina, dann von ihrer Mama.
Ich lasse meinen Blick über die vielen Blumensträuße und Geschenke schweifen – und bleibe erschrocken an etwas Buntem hängen. „Was ist denn da passiert?“, frage ich Tina und deute in die Zimmerecke. Ein Wohnzimmerfenster ist von oben bis unten bunt angemalt. Sonne, Haus, Auto, Katze und viele, wirklich sehr viele bunte Kreise und Striche und Kritzeleien sind darauf, sodass man kaum noch erkennt, was auf der anderen Seite der Glasscheibe passiert. „Ach das“, sagt Tina „das ist halb so wild.“ Sie bleibt außerordentlich gelassen. „Wie bekommst du das wieder weg?“, frage ich sie, während Paulina angestrengt und hoch konzentriert den gefühlt 101. roten Kreis an die Scheibe malt. Ein Stück davon landet auf ihrer Hand und auf ihrer Backe. „Ganz einfach mit Glasreiniger. Diese speziellen Fensterfarben lassen sich ganz leicht wieder entfernen“, sagt sie. Ganz leicht wieder zu entfernen, soso. Hoffentlich verwechselt Paulina die Glasscheibe nicht irgendwann einmal mit der Tapete …
Paulina freut sich währenddessen, ihr neuestes Hobby, das Malen auf der Fensterscheibe, voll und ganz ausleben zu können. Ich schnappe mir den gelben Stift und male Punkte dazu. Paulina freut es, sie quietscht und lacht. Wenige Augenblicke später betrachtet sie kritisch ihr Kunstwerk und beschließt: Hier fehlt noch Blau. Nichts wie drauf damit. Ob van Gogh, Picasso und Co. auch so daruflos gemalt haben? Ein paar Tage später wird mir Tina mit ironischem Unterton von ihrem „neuesten Hobby“ berichten: dem Fensterputzen. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr das Malen so viel Spaß macht.“
Auch wenn Paulina mit ihren zwei Jahren eher noch zu den kleinen Fußball-Fans gehört, so ging die Europameisterschaft aber auch an ihr nicht einfach so vorbei.
Ich: „Fußball und Fahnen waren quasi an jeder Ecke zu finden. Wie hat sie darauf reagiert?“
Tina: „Ich glaube, sie hat schon mitbekommen, dass etwas los ist. Die Spiele haben sie natürlich nicht interessiert. Und uns hat sie abends auch immer davon abgehalten, das Turnier am Fernseher zu verfolgen.“
Aber ein bisschen Fanliebe gehörte auch für Paulina dazu, aber nicht wie bei allen anderen. Trikot kann ja schließlich jeder. Die junge Dame trug stilecht Haarspangen in Deutschlandfarben, ist doch klar. Auch an diesem Geburtstagabend, an dem zufällig ein Spiel der deutschen Mannschaft stattfand. Von den Jubelschreien der Geburtstagsgäste im Garten bekam zwar die gesamte Nachbarschaft etwas mit, aber nicht die kleine Fußballprinzessin. Die ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen und verschlief den Ausgang des Spiels. Auch wenn Tina nicht nur einmal „Psst“ von sich gab und in die Runde blickte.
Ein paar Torschüsse vorher erzählt mir Tina von Paulinas neuester Marotte: Egal, wo sie ist, sie zieht ihre Schuhe aus. Sehr nobel, vorbildlich und reinlich könnte man nun meinen, aber nicht ganz so ist es von ihr gemeint. „Das geht schon morgens los. Ich brauche momentan überhaupt gar nicht versuchen, ihr Schuhe anzuziehen, denn sobald wir im Auto sind, zieht sie sie sowieso wieder aus“, sagt Tina. So balanciert sie ihre Tasche, ihre Tochter und deren Schuhe allmorgendlich ins Auto. Auch an diesem Abend habe ich Paulina ein paar Mal auf dem Rasen sitzen und mit ihren Klettverschlüssen kämpfen sehen. Blöd nur, dass die so aufeinanderkleben. Egal. Dann wird eben auf der Glasscheibe weitergemalt.
Paulina: „Ham ham.“
Tina: „Hast Du Hunger?“ Paulina nickt angestrengt, lässt ihren blauen Stift dabei aber nicht los.
Ich: „Ham ham also. Wie klappt es denn bei Paulina mit dem Sprechen?“
Tina: „Sie spricht langsam aber sicher immer mehr. Fakt ist aber, dass wir sie mit ihren wenigen Worten verstehen. Wir wissen, was sie meint, auch wenn Fremde manchmal nur Bahnhof verstehen. Es ist aber sehr spannend zu beobachten, wie sie es schafft, in einzelnen Worten Erlebnisse wiederzugeben.“ Verbrachte Paulina beispielsweise einen Tag bei ihren Großeltern, dann möchte sie ihrer Mama davon erzählen. „Das ist wirklich sehr süß mitanzusehen, wie sie versucht, mir davon zu erzählen. Auch wenn ich manchmal erst verstehe, was sie meint, wenn ich die Ergänzungen von ihrer Oma höre“, sagt Tina. „Dann fügen sich die Puzzleteile Stück für Stück zusammen.“ Vielleicht möchte Paulina ihre Geschichten aber auch einfach nur extra spannend erzählen, indem sie einfach die Hälfte weglässt und man sich alles zusammenreimen muss …? Nein, wohl eher nicht.
So viel Trubel, so viele Gäste, so viel Jubel – es wird Zeit für die kleine Familie, ein bisschen auszuspannen. Es geht ans Meer, genau dorthin, wo Paulina im vergangenen Jahr zum ersten Mal ihre Füße am Strand in den Sand gesteckt hat. Ob sie sich daran irgendwie noch erinnern kann? Sie war ja noch so klein.
Tina: „Ich zeige ihr manchmal Bilder davon, wie sie am Strand saß und im Sand gebuddelt hat. Wenn ich sie dann abends ins Bett bringe und sie frage, wo wir bald hinfahren, dann sagt sie zur ,Lona‘, was richtig ist. Es geht zu meiner Tante Ilona. Ich bin gespannt, ob sie sich an etwas erinnern kann.“
Paulina wird immer größer und älter und möchte auch Verantwortung übernehmen. Das merkt Tina ganz deutlich. Vor allem dann, wenn Paulina ihre Puppe umsorgt, in den Kinderwagen setzt, sie füttert und danach schaut, dass es ihr auch ja gut geht und sie genügend schläft. „Der Wunsch nach einem Geschwisterchen scheint immer größer zu werden.“ So zieht Paulina, die wieder auf Mamas Arm sitzt, an ihrem Pullover, guckt von oben hinein und fragt „Baby?“. „Das macht sie andauernd. Auch wenn ich auf der Couch liege, streichelt sie mir den Bauch und fragt nach einem Baby. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber …“, sagt Tina mit einem Lächeln und lässt den Satz unvollendet so stehen. Der nächste Gratulant drückt ihr einen Kuss auf die Wange, Paulina fängt zu Kichern an.
Aber beim Umsorgen der Puppe allein will es Paulina als große Schwester in spe nicht belassen. So darf sie zum Beispiel das sechs Monate alte Baby von Tinas Freundin halten, wenn sie bei ihren Besuchen auf dem Sofa sitzt. „Wenn wir dort sind, rennt sie auf die Couch, streckt die Arme nach vorne und wartet darauf, dass sie die kleine Amelie endlich im Arm halten darf“, sagt Tina wenig später. Ich verstehe das als klare Aufforderung von Paulina an ihre Eltern. Dazu braucht es auch fast gar keine Worte – und ein wichtiges kennt sie ja schon: Baby. Aber darauf wird sie noch etwas warten müssen. Solange übt sie mit ihrer Puppe, genießt Mama und Papa für sich allein und bemalt weiter Fensterscheiben.
Bildunterschrift: Kritisch betrachtet die kleine Künstlerin ihr Werk.