Kinder mit Migrationshintergrund bekommen in der Schule bei gleicher Leistung schlechtere Noten als deutsche Kinder. Interview mit Dr. Meike Bonefeld, Universität Mannheim, Arbeitsgruppe Unterrichtsqualität in heterogenen Kontexten.
Ob ein Kind für eine bestimmte Leistung in der Schule eine gute oder schlechte Note bekommt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Leider, so muss man klar feststellen, ergibt sich die Note nicht nur aus der jeweiligen Leistung. Eine Rolle kann auch spielen: die Verfassung der Lehrkraft, die Reihenfolge der korrigierten Hefte/Arbeiten, der generelle Leistungsstand der Schüler, soziale Faktoren (Bildungsstand Elternhaus), aber auch: Brille ja oder nein, Mädchen oder Junge und der Vorname (Martha schneidet in der Regel besser ab als Mandy). Seit Jahren fordern übergeordnete Institutionen objektivere Regelkataloge zu etablieren. Denn Noten (die folgenden Aussagen gelten in erster Linie für die Grundschule), sind nicht nur ungerecht, bremsen und entmutigen, sie entscheiden über die Laufbahn der Schüler im Sinne einer leider gewollten sozialen Selektion und über den späteren Zugang Bildung und Wohlstand. Eine experimentelle Studie der Universität Mannheim hat vor kurzem nachgewiesen, dass, zusätzlich zu den bereits bewiesenen Verzerrungsmechanismen, Kinder mit Migrationshintergrund (bei gleicher Leistung) durchweg schlechter benotet werden. Wir haben uns mit der Leiterin der Studie, Dr. Meike Bonefeld, unterhalten.
Sehr geehrte Frau Dr. Bonefeld, seit Jahrzehnten stehen Zensuren in der Kritik, nicht nur, weil sie entmutigen und bremsen – sondern auch, weil sie als ungerecht gelten. Unbewusst fließen bei der Benotung äußere Faktoren mit ein. Nicht nur Geschlecht (Mädchen bekommen in der Regel in den Hauptfächern bessere Noten), sondern auch der Vorname (Stichwort Kevin), soziale und ethnische Herkunft, Verhaltensauffälligkeiten und persönliche Sympathie spielen eine Rolle. Waren Sie dennoch von dem Ergebnissen Ihrer aktuellen Studie überrascht?
Vor dem Hintergrund der genannten Informationen waren wir erst einmal nicht überrascht, dass die Noten für „Murat“ schlechter ausfallen. Was aber spannend war und was uns auch gefreut hat: die Fehler wurden richtig gezählt. „Murat“ wurden also nicht einfach mehr Fehler zugeschrieben, als Max.
„Max“ schnitt deutlich besser ab, als „Murat“, selbst bei der gleichen Anzahl der Fehler. Wie erklären Sie sich diese Ungerechtigkeit?
Generell muss man feststellen: Urteile fallen nun mal unterschiedlich aus, wenn sie von unterschiedlichen Menschen gefällt werden. Warum aus der gleichen Fehleranzahl unterschiedliche Noten abgeleitet wurden, hängt damit zusammen, dass bei jeder Urteilsfindung unbewusst Stereotypen einfließen können. Das geht allen Menschen so, nicht nur Lehrkräften. Das ist im Alltag ja durchaus nützlich, damit Entscheidungen auch schnell gefällt werden können. Beim Einkaufen denken wir ja auch nicht ausufernd darüber nach, welcher Joghurt uns schmecken könnte. Wir haben unsere Erfahrungen und handeln dementsprechend. In der Psychologie nennen wir das „Daumenregeln“ um schnell und effizient Urteile fällen zu können. Dazu kommen aber auch Unsicherheiten, die ebenfalls alle Menschen haben. Diese Unsicherheiten beeinflussen uns unbewusst und können dazu führen, dass wir, selbst wenn wir denken, keine Stereotypen zu haben, uns beeinflussen lassen. Bekommen wir zum Beispiel ständig durch die Medien gesagt: ‚Türkische Kinder sind schlecht in der Schule‘, dann beeinflusst uns das, ohne dass wir es eigentlich wollen. Für die Notenvergabe könnte eine aus diesen Erkenntnissen resultierende Forderung sein: für die Notenvergabe ein klares Regelwerk einzuführen.
Waren die Probanden selbst auch von dieser falschen Benotung überrascht?
Das zu beantworten ist schwierig. Aus datenschutztechnischen Gründen dürfen wir die Ergebnisse nicht einer bestimmten Person zuordnen. Was wir aber machen müssen, ist die Teilnehmer über die Ergebnisse ganz allgemein zu informieren. Das war sehr spannend für uns. Die Teilnehmer waren schockiert über dieses Ergebnis, aber die meisten waren sofort der Ansicht: ‚Das waren die anderen, ich nicht!‘. Uns hat das gezeigt, dass wir alle noch viel stärker an diesen unbewussten Stereotypen arbeiten müssen.
Eine Frage zum Verständnis: Befanden sich keine angehenden Lehrkräfte mit Migrationshintergrund unter den Teilnehmenden?
Tatsächlich waren es ausschließlich Lehrer deutscher Herkunft. Wir haben das bewusst so gehandhabt, um den Effekt nicht zu mischen. Studien liefern Hinweise darauf, wenn Lehrer einen Migrationshintergrund haben, muss die Passung stimmen. Bewertet also ein türkischstämmiger Lehrer ein Kind mit demselben Hintergrund, so fällt die Bewertung positiver aus, als bei einem Kind anderer Herkunft. Es hat also keinen Sinn zu sagen, wir müssen einfach mehr türkische Lehrer einstellen. Der Effekt bleibt. Das nennt sich ‚ingroup/outgroup favoritism‘.
Die „Lernzielgleichheit“ war ja über lange Zeit hinweg eine Stärke des deutschen Schulsystems. Kann das in Zeiten von Inklusion und Integration überhaupt noch ein Thema sein?
Es kommt darauf an: Da bin ich nicht DIE Expertin. ich kann aber in den Raum werfen: Was haben Noten für Funktionen? Sollen sie dem Lehrer den Stand des Schülers zeigen, oder sollen sie über Dinge entscheiden, die weit in der Zukunft liegen, nämlich über den Zugang zu gesellschaftlichen Systemen. Diese Faktoren muss man bei solchen Fragen immer berücksichtigen.
Grundgedanke hinter dem System der Schulnoten: Wer viel leistet, bekommt auch viel – ein grundsätzlich fairer Gedanke. Aber: Wenn wir die Ergebnisse Ihrer Studie plus ähnlich gelagerte Studien auf die Realität anwenden, hieße das doch: Wer viel mitbringt (einen vermeintlich höheren sozialen Status) bekommt auch viel (nämlich bessere Zensuren). Wie lässt sich dieser Kreislauf durchbrechen?
Unsere Studie zeigt zum einen, wie nötig objektive Bewertungsmaßstäbe sind. Aber, die eigentliche Ungerechtigkeit entsteht ja auch durch andere Faktoren. Zum Beispiel durch die Schulformwahl im Rahmen des dreigliedrigen Schulsystems, oder durch das fehlende Wissen um den Wert eines Studiums. Wenn Jugendliche nach einem Hauptschulabschluss eine Ausbildung beginnen, bekommen sie ja viel schneller ein Gehalt, als andere, die studieren. Dass langfristig ein höherer Abschluss deutlich zukunftsträchtiger ist, dieses Wissen muss vielen Familien deutlicher vermittelt werden. Es ist also nicht nur ein Problem der Schulen, sondern auch der Familien, bzw. der Gesellschaft. Hier wirken also verschiedene benachteiligende Mechanismen zusammen.
Fügen sich die Ergebnisse Ihrer Studie in ein generelles System der Ungerechtigkeit bei der Notenvergabe ein, oder zeigt sich hier zusätzlich ein diskriminierender Faktor aufgrund eines Migrationshintergrundes?
Es ist kein typisch deutsches Ergebnis, wenn es das ist, worauf Ihre Frage abzielt. Studien aus den USA – durchgeführt mit anderen Minoritätengruppen – zeigen ganz ähnliche Effekte. Oder auch aus unserem Nachbarland Luxemburg, dort ist dies die Gruppe Kinder portugiesischer Abstammung, die benachteiligt wird. Es zeigen sich überall dieselben Effekte. Kinder mit Migrationshintergrund haben es generell schwerer, egal wo sie leben.
Noch eine provokante Frage zum Schluss. Hieße das eine Kind in der Studie nicht „Max“, sondern zum Beispiel „Jason-Pascale“*. Wie wäre das Ergebnis ausgefallen?
Wir haben einen möglichst neutralen Namen gewählt, um das Ergebnis nicht zu verfälschen. Aber: Eine Studie von Anita Tobisch und Markus Dresel von der Universität Augsburg hat gezeigt. „Jason-Pascale“ wird schlechter bewertet, als „Max“. Aber immer noch besser als „Murat“.
Interview: bw // Fotos: Istock, Manuel Grünewald
Quellenangaben:Bonefeld, M., Dickhäuser, O. (2018). (Biased) Grading of Students‘ Performance: Students‘ Names, Performance Level, and Implicit Attitudes. Frontiers in Psychology, 9.
Bonefeld, M., Dickhäuser, O., Janke, S., Praetorius, A.K. & Dresel, M. (2017).
*Der Name „Jason-Pascale“ wurde von der Redaktion zufällig und ohne jede diskriminierende Konnotation ausgewählt. Die Studie von Anita Tobisch wählte einen alternativen Namen.