Zu Besuch im Kinderhospiz Bärenherz. Hier werden Eltern schwerstbehinderter, lebensverkürzt erkrankter Kinder unterstützt und begleitet. Hier treffen wir Julia Roos, die ihre Tochter Lilli 30 Minuten und 4 Tage kennenlernen durfte.
Als Julia Roos in der 12. Schwangerschaftswoche zum Arzt ging, nahm sie den gleichen Weg wie immer, erst zwischen den Häusern hindurch, dann an der Straße entlang. Es war ja nicht weit zu Fuß. Beim Arzt war die junge Frau seitdem noch sehr oft, aber diesen Weg hat sie nie wieder genommen. „Es war wie ein böses Omen“, sagt die 28-Jährige. „Seitdem gehen wir immer einen anderen Weg.“
Wir sind heute in Wiesbaden, im Kinderhospiz Bärenherz, genauer: in der im September 2018 neu eröffneten Beratungsstelle für Eltern, die in der Schwangerschaft erfahren, dass ihr Kind schwerstkrank oder nicht lebensfähig ist. Geleitet wird die Beratungsstelle von Claudia Langanki, die bisher die Leitung des Hospizes innehatte und von jeher ihren Schwerpunkt auf die Begleitung dieser Familien legte. Jetzt widmet sie sich ganz der neuen Aufgabe, die immer wichtiger wird, da immer mehr Anfragen kommen. „Die Gesellschaft erwartet, dass die betroffenen Eltern still und unauffällig trauern, wenn sie ihr Kind noch im Bauch oder kurz nach der Geburt verlieren“, erklärt Claudia Langanki. „Dass auch diese Eltern trauern müssen dürfen, um den Verlust zu überwinden, das ist noch immer nicht in der Gesellschaft angekommen.“ Generell sei das Thema Trauer und Tod noch immer stark tabuisiert, dabei gehört es zum Leben dazu.
Die junge Mutter hat heute ihren kleinen Sohn Merlin dabei. Er ist 3 ½ Monate alt und bekommt viel über seine große Schwester erzählt, die er lebendig nie kennengelernt hat. Lilli kam am 11. August 2017 zur Welt und lebte nur 30 Minuten. „Sie hat einmal kurz die Augen aufgemacht“, erzählt Julia Roos, „dann hat die Hebamme sie mir auf die Brust gelegt und ich habe ihren Atem gespürt. Er war ganz zart. Lilli hat beim Atmen so leise, süße Töne gemacht. Irgendwann habe ich gespürt, wie sie immer langsamer amtet.“
Nach 30 Minuten hörte Lilli auf zu atmen.
Was für Außenstehende wie ein furchtbares Ende einer schlimmen Zeit klingt, war für Julia Roos und ihren Mann Marco Opitz neben all dem Schmerz der Anfang für etwas Neues, für ein Leben mit Lilli. „Sie ist Teil dieser Familie, auch wenn wir sie nur so kurz kennenlernen durften“, sagt Julia Roos. „Ich bin so dankbar für diese kurze Zeit.“ Aber ist es nicht schmerzhaft, darüber zu sprechen? „Nein, im Gegenteil. Ich rede so gern über sie. Ich möchte von ihr erzählen, denn so bleibt sie lebendig.“
Dass die junge Frau so offen und positiv über die Zeit sprechen kann, dass verdankt sie zum Großteil dem Kinderhospiz und der Bärenherz Stiftung. „Sie haben mich und meinen Mann durch diese Zeit begleitet, uns unterstützt, sind mit uns zu den Ärzten gegangen und haben für die Zeit, die wir mit Lilli verbringen durften, alles organisiert. Ich wäre dazu nicht in der Lage gewesen.“
Denn, als Lilli tot war, nahm Julia Roos ihre Tochter auf den Arm und fuhr durch den strömenden Regen, auf dem Beifahrersitz eines Bestatters, mit ihr ins Kinderhospiz. Hier, im Familienzimmer, war schon alles für die Ankunft vorbereitet. An der Tür stand in großen Buchstaben „Lilli“ und der Raum wurde von vielen Kerzen erleuchtet. Als wäre Lilli ein lebendiges, gesundes Kind, legte Julia ihre Tochter in die vorbereitete Wiege. Dann aß sie ein Käsebrot („das hat so unglaublich gut geschmeckt, ich kann mich immer noch genau an den Geschmack erinnern“) und schlief ein. Als Julia und ihr Mann Marco Opitz am nächsten Morgen aufwachten, nahmen sie Lilli aus der Wiege und legten sie zwischen sich ins Bett, um mir ihr zu kuscheln. Vier Tage verbrachten sie so mit ihrem Kind. „In der Wiege lagen Kühlpads, um den Alterungsprozess aufzuhalten“, erklärt Julia Roos auf unsere Nachfrage, so, als sei das alles ganz normal. „Ist es auch“, erklärt Claudia Langanki. „Eltern müssen Zeit bekommen, um Abschied zu nehmen. Und das können sie nur MIT ihrem Kind. Sie müssen das Kind erleben, es streicheln, es ansehen. Sie müssen Erinnerungen sammeln können. Und das geht nur, wenn man die Zeit dafür bekommt.“
„An diesem Abend haben wir schrecklich geweint“
„Lilli wurde von Tag zu Tag hübscher und rosiger“, erzählt Julia Roos weiter. „Wir haben Fotos gemacht, wir haben Fußabdrücke genommen, die ganze Familie kam zu Besuch, um Lilli kennenzulernen. Am dritten Tag brachte jemand einen klitzekleinen Holzsarg, den die Eltern bemalten. „Wir hatten so eine Freude daran“, erzählt Julia Roos, „wir konnten gar nicht aufhören, ihn zu bemalen und zu verschönern. Ab und zu legten wir Lilli probeweise in den Sarg und holten sie auch wieder raus, um uns daran zu gewöhnen.“ Nach vier Tagen blieb das zarte Baby dann endgültig in dem bemalten Sarg und er wurde verschlossen. „Wir haben ihn auf dem Bett stehen lassen und sind nach Hause gefahren. An dem Abend haben wir so schrecklich geweint. Aber auch das übersteht man irgendwie.“
An jenem Tag in der 12. Schwangerschaftswoche stand eigentlich nur eine ganz normale Untersuchung an. Als der Arzt beim Ultraschall meinte etwas zu entdecken, nämlich eine sehr dicke Nackenfalte, und damit den Hinweis auf einen schweren Gendefekt, versuchte Julia Roos nicht in Panik zu geraten. Noch am gleichen Tag bekam sie einen Termin in der HSK (Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden), doch auch der Spezialist für Pränatalmedizin konnte keine Entwarnung geben, sondern bestätigte die Diagnose: Dieses Kind ist nicht lebensfähig und wird wahrscheinlich noch im Bauch sterben. Nach dem ersten Schock versuchte das junge Paar Klarheit zu bekommen. Was bedeutet das genau, nicht lebensfähig? Was heißt das? Wann genau stirbt das Kind denn? Das wollte und konnte aber kein Arzt festlegen. „Auf mein Drängen hin wagte ein Arzt die vorsichtige Prognose: „Zwischen der 21. und 25. Woche wird es sterben.“ Entgegen dem ärztlichen Rat ließ Julia Roos keine Fruchtwasseruntersuchung machen, zu groß war die Angst vor einer Komplikation. Und entgegen der zwar nicht offen empfohlenen, aber doch von allen Seiten wie selbstverständlich vorausgesetzten Empfehlung ließ das Paar keinen Abbruch vornehmen. Das kam für die beiden nicht infrage. „Ich hätte das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können und ich habe auch bis zuletzt auf ein Wunder gehofft. Was, wenn sich die Ärzte geirrt haben? Was wenn sie doch gesund ist?“, erzählt die junge Mutter.
„Lilli hat uns die Angst vor dem Tod genommen“
Die weiteren Arztbesuche im Verlauf der Schwangerschaft wurden immer schrecklicher, denn bei jedem Termin wurde etwas Fehlerhaftes entdeckt. „Einmal meinte ein Arzt, sie habe wahrscheinlich kein Nasenbein. Da habe ich mir große Sorgen gemacht, wie sie wohl aussehen würde. Dabei sah sie perfekt aus.“ Und entgegen der Prognosen fühlte sich Lilli 42 Wochen im Bauch ihrer Mutter wohl, bewegte sich zart und wurde jedes Mal munter, wenn ihr Papa mit ihr sprach, auch ihr Herz schlug regelmäßig. Irgendwann musste aber eine Entscheidung getroffen werden und die Geburt wurde eingeleitet. „Davor hatte ich so große Angst“, erzählt Julia Roos. „Denn ich wusste ja, entweder stirbt sie bei der Geburt oder ich verliere sie kurz danach.“ Als Lilli dann endlich kam, blieb alles still, kein lauter Säuglingsschrei, kein empörtes Weinen war zu hören. Zuerst wusste niemand, ob sie die Geburt überlebt hat, aber dann schlug sie die Augen auf.
Nach Lillis Tod ließen sich die Eltern auf fehlerhaftes Erbgut untersuchen, sie sind vollkommen gesund. Dass Lilli so krank war … nichts weiter als ein trauriger Zufall. Für die HSK Klinik in Wiesbaden hatten sich die beiden übrigens auch deshalb entschieden, weil die Klinik bereit war, eine palliative Geburt zuzulassen. In anderen Krankenhäusern wäre ihnen das Kind sofort weggenommen und medizinisch versorgt worden. „Aber was hätte das für einen Sinn gehabt?“, fragt Julia Roos, „dann hätte Lilli vielleicht ein, zwei Stunden länger gelebt, aber wir hätten sie nie kennengelernt. Sie wäre an Schläuche angeschlossen und ohne uns gestorben.“ Es sei sehr aufreibend gewesen, sich gegen die Ratschläge der Ärzte zu entscheiden. Aber auch hier half ihr die Unterstützung von Bärenherz. „Das Komische war ja, dass die ganze Schwangerschaft hindurch bis zum Schluss ein Abbruch für die Ärzte völlig normal gewesen wäre, aber eine natürliche Geburt, nur damit wir das Kind kennenlernen können und es dann ohne Kampf sterben lassen, das konnte niemand verstehen.“ Erst im Nachhinein kamen die Ärzte auf sie zu und sagten: „Es war die richtige Entscheidung.“ Heute haben Julia und Marco Opitz ein gesundes Baby, trotzdem denken sie täglich an Lilli. „Sie ist unser erstes Kind und hat für immer einen Platz in unserer Familie.“
„Eltern müssen die Möglichkeit bekommen, Eltern zu sein“
Im Anschluss an die erste Phase der Trauer bietet das Kinderhospiz Trauergruppen für Eltern an, diese gehen immer ein ganzes Jahr. Sie beginnen im Januar und enden im Dezember. Auch Julia Roos und ihr Mann haben dieses Trauerjahr mit einer Gruppe verbracht, die anderen Familien sind inzwischen Freunde. „Der Druck, der Schmerz, die Tränen, das muss alles raus, erklärt Claudia Langanki das Prinzip der Trauergruppe. „Eltern müssen irgendwie ins Leben zurückfinden und das geht nur, wenn sie trauern können, das muss durchlebt werden.“ Und wirklich trauern könne man nur um etwas, das man kennenlernen durfte. „Wenn Eltern erfahren, ihr Kind werde sterben oder ihr Kind sei tot, dann hören Eltern das, aber sie realisieren es nicht sofort. Eltern müssen die Möglichkeit bekommen, Eltern zu sein, sie müssen ihr Kind als Eltern erleben dürfen und etwas von dieser untrennbaren Liebe zu diesem Kind mit ins Leben zurücknehmen. Nach einiger Zeit spüren sie: ich bin jetzt bereit, den Körper meines Kindes gehen zu lassen.“ Vätern falle es teilweise schwerer anzuerkennnen, dass sie Hilfe brauchen, erzählt Claudia Langanki. „Oft rufen mich Väter an und sagen: ‚Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich muss immer nur weinen. Auf dem Weg zu Arbeit, zuhause … immer muss ich weinen.‘ Jeder Mensch müsse sich nach einem Verlust der Trauer stellen, erst dann könne es ihm besser gehen.
Merlin kam übrigens im selben Kreissaal zur Welt wie seine Schwester und dieselbe Hebamme hatte Dienst. Es war eine kurze, komplikationslose Geburt und Merlin ein gesundes munteres Baby. Trotzdem war Julia Roos‘ erste Frage an die Hebamme, als er nicht gleich schrie, weil die Lunge sich erst entfalten musste:„Lebt er?“
bw // Fotos: Archiv, Stiftung Bärenherz
INFO: Bärenherz Stiftung
Die Schwangerenbegleitung ist ein Projekt von Bärenherz Wiesbaden. Die Schwangerenbegleitung richtet sich an Eltern mit einer lebensverkürzenden Diagnose oder schwerster Behinderung des ungeborenen Kindes. Begleitet von Trauerbegleitern, Psychologen, Seelsorgern, Musiktherapeuten und männlichen Begleitern für die Väterbetreuung kann die Therapie stationär oder ambulant in Anspruch genommen werden. Miteinbezogen werden auch die Geschwisterkinder und andere Angehörige.
KONTAKT: Bärenherz Stiftung, Bahnstraße 13, 65205 Wiesbaden, 0611 360111-00, baerenherz.de