„Jedes Kind kann rechnen lernen“, heißt der neu im BELTZ Verlag erschienene Ratgeber von Dr. Klaus Zimmermann. Wir haben uns mit ihm unterhalten und nachgefragt, ob tatsächlich jedes Kind rechnen lernen kann – trotz Dyskalkulie oder Rechenschwäche.
Sehr geehrter Herr Dr. Zimmermann, durchschnittlich sitzen ein bis drei Kinder mit einer Rechenstörung in jedem deutschen Klassenzimmer. In den entsprechenden Studiengängen wie Ingenieurswesen oder Informatik ist die Durchfallquote in Mathematik beispiellos hoch, auch angehende Grundschulpädagogen fallen regelmäßig durch die Klausuren im Pflichtfach Mathematik und viele Erwachsene haben noch jahrelang nach – bestandenem – Abitur Albträume, in denen sie im Traum durch die Mathematikprüfung rasseln. Warum ist Mathematik so ein Angstfach?
Dr. Klaus Zimmermann: Vor allem deshalb, weil es dem(r) Lehrer(in) nicht gelingt, die Kinder sinnvoll in das Rechnen mit Zahlen, vor allem Kardinalzahlen einzuführen das heißt, dass sie über keine ausreichenden Kenntnisse in Mathematikdidaktik verfügen.
Viele Kinder und auch Erwachsene tun sich schwer mit Mathematik. Aber ab wann lässt sich von einer Rechenschwäche oder sogar Dyskalkulie sprechen?
Von Rechenschwierigkeiten (RS) kann man dann sprechen, wenn das Kind im Anfangsunterricht die Rechenaufgaben fehlerhaft löst.
In Ihrem unlängst erschienenen Ratgeber verwenden Sie ausschließlich den Begriff „Rechenschwierigkeiten“. Was genau definiert dieser Begriff?
RS sind anhaltende, systematisierbare, in gleicher Weise regelmäßig auftretende, sowie subjektive rechnerische Fehlleistungen.
Viele Eltern durchlaufen mit ihren Kindern unterschiedliche Therapien und Programme, die die Wahrnehmung verbessern sollen. Sie aber schreiben: „Rechnen lernt man nur durch Rechnen“. Machen Ergotherapie & Co. also doch keinen Sinn?
Funktionstrainings, wie die visuellen Wahrnehmungstrainings, (zum Beispiel das Erkennen räumlicher Beziehungen), die keinen Bezug zur Mathematik haben, können auch nur in dem trainierten Bereich und nicht im Rechnen Erfolg haben.
Bei welchen Auffälligkeiten/Verhaltensweisen des Kindes sollten Eltern etwas unternehmen? Auf RS weisen hin: Rechenaufgaben vermeiden, Unsicherheit bei einem eingeschlagenen Rechenweg; Ablehnung von Rechenwegen und Vorschlägen, die von den Eltern kommen; Rechenängste; erfolgloses ständiges Üben und Nachhilfeunterricht im üblichen Sinne.
„Auch mit Rechenschwäche ist ein gutes Abitur möglich“
Im Kindergarten zählen fast alle Kinder mit den Händen, bis zu welchem Zeitpunkt ist das normal? Wenn von den Kindern in der Schule erwartet wird, dass sie schnell und sicher Kopfrechnen können. Spätestens in der zweiten Klasse sollten Kinder im Kopf rechnen.
Sollten Eltern das Zählen mit den Händen irgendwann „verbieten“?
Den Kindern sollte klar gemacht werden, dass das Rechnen mit den Fingern zu langsam und fehlerhaft ist. Sie sind auch insoweit ungeeignet, da wir nur zehn Finger haben. Die Eltern sollten zu Beginn beim Rechnen mit den Kindern Anschauungsmaterial zum Beispiel Muggelsteine* zur Hilfe nehmen.
Hilfe für Kinder mit Rechenschwäche ist oft nur zu realisieren, wenn die finanziellen Mittel (der Eltern) vorhanden sind. Denn entsprechende Therapien werden von den Krankenkassen in der Regel nicht bezahlt. Ihr Buch richtet sich explizit an Eltern. Ist es eine Art Therapieersatz für zu Hause?
Das Buch soll den Eltern zeigen, wie Rechenschwierigkeiten erkannt und möglichst frühzeitig bewältigt werden können. Es kann aber auch für Lehrkräfte eine Hilfe sein. Bei lang andauernden, das Selbstwertgefühl beeinträchtigenden Rechenschwierigkeiten sollte, wie im Ratgeber beschrieben, eine Einzelförderung erfolgen.
Was sollten Eltern beachten, wenn sie die Rechenschwierigkeiten ihrer Kinder beheben wollen?
Sie müssen es sich zutrauen und vor allem dem Kind zeigen, dass sie es lieben und annehmen, unabhängig von seinen schulischen Leistungen.
Viele Eltern haben ein eingeschränktes Verständnis von Mathematik – oder haben in der Schule andere Lösungswege erlernt. Macht das Lernen zu Hause trotzdem Sinn?
Das Kind kann ruhig wissen, dass seine Eltern auch Schwierigkeiten hatten. Eltern dürfen aber nur die Lösungswege benutzen, die in der Schule ihres Kindes durchgenommen werden.
Können Kinder mit Rechenschwäche „ganz normal“ ein gutes Abitur machen?
Wenn die RS aufgearbeitet sind und das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit da ist, sehe ich keinen Grund warum die Prüfungen für das Abi nicht geschafft werden können.
Folgende Kopfrechenaufgabe steht im aktuellen Mathebuch einer vierten Klasse: Wie sollte das Kind hier am besten (ohne schriftliche Hilfestellung) vorgehen? 776000 + 2900 =
Es besteht meiner Einschätzung nach keine Notwendigkeit, derartige Aufgaben im Kopf zu rechnen. Da hätte ich auch Probleme. Im Prinzip rechnet man schrittweise, das heißt: erst die Hunderter und dann die Tausender …
Rechenstörung wird als schulische Entwicklungsstörung in der Gewährung von Nachteilsausgleich nicht anerkannt. Bei Kindern, die eine Lese- oder Rechtschreibstörung haben dagegen schon. Zeigt diese Ungleichbehandlung, dass auch in der Schule davon ausgegangen wird, dass jedes Kind rechnen lernen kann – wenn es nur fleißig genug übt?
Grundsätzlich sollte jedes Kind gemäß seinen Lernvoraussetzungen in einem inklusiven Unterricht lernen können, dann wäre mehr Zeit für die individuelle Förderung der mathematischen und schriftsprachlichen Entwicklung statt für aufwändige diagnostische Verfahren zur Gewährung eines Nachteilsausgleichs. In einer Reihe von Bundesländern werden auf der Grundlage der KMK-Beschlüsse RS für die Grundschule anerkannt, aber nicht für die weiterführenden Klassen, wo sich oft erstmals Probleme zeigen. Rechenprobleme nicht anzuerkennen, halte ich für verhängnisvoll.
Klaus R. Zimmermann, Dr. rer. nat. und Dipl. Math., ist Autor verschiedener erfolgreicher Bücher über Rechenschwäche und Dyskalkulie. Am Institut für Lernförderung in Frankfurt hat er mehr als hundert Lerntherapien begleitet und zahlreichen Schülerinnen und Schülern bei ihren Mathe-Schwierigkeiten geholfen. Mehr unter: 123-netzwerk.de
Interview: bw // Foto/Cover: BELTZ, sho