Interview: Aus Fehlern zu lernen ist ein ganz wichtiger Schritt

Mit dem Lernen beschäftigt sich Professorin Dr. Ilonca Hardy von Berufswegen. An der Frankfurter Goethe-Universität gehört sie zum Leitungsteam der Didaktischen Werkstatt. Die Erziehungswissenschaftlerin spricht über das Zusammenspiel der Zugänge, selbstgesteuerte Lernprozesse und die Rolle von Eltern, Erziehern und Erzieherinnen und Lehrkräften.

Buntstifte in Herzform /Pixabay

StadtLandKind: Frau Professorin Hardy, Lernen ist ein weites Feld. Gibt es unterschiedliche Lerntypen, vielleicht auch abhängig vom Alter?

Professorin Dr. Ilonca Hardy: Sowohl der Begriff der Lerntypen als auch altersbedingte Lernstufen gelten inzwischen als überholt. Wir gehen vielmehr davon aus, dass alle Kinder unterschiedliche Zugänge zu Lernmaterial und Lerngelegenheiten benötigen, um gut zu lernen. Wenn beispielsweise etwas aufgemalt oder eine Graphik verwendet wird, kann man das als visuellen Zugang bezeichnen. Wenn etwas zusätzlich mit Worten erklärt wird, ermöglicht es einen auditiven Zugang. Dieses Zusammenspiel ist für alle Kinder wichtig, weil sie dadurch Wissen vernetzen können.

Dringt dann Wissen über verschiedene Sinne in die unterschiedlichen Ebenen des Gehirns vor?

Wir sprechen von der Vernetzung von Wissen. Ein einzelnes Wissenselement bringt wenig, wenn die Person nicht in der Lage ist, zu benennen, womit das Einzelelement zusammenhängt, eine Verknüpfung herstellen kann, und damit weitere Lernschritte ermöglicht werden.

Versuchen wir das mit einem Beispiel: Wenn ein Kind etwas über Pflanzen lernt, muss es nicht nur den Namen wissen, sondern auch, wie werden sie gegossen, was kann ich mit den Pflanzen anfangen, wo wachsen sie…

Genau. Dieses Wissen wird eingebettet. Wir unterscheiden verschiedene Wissensarten. Die niederschwelligste Art ist das Faktenwissen. Wenn wir bei dem Beispiel bleiben, können Kinder die Pflanzenart erkennen. Wichtiger jedoch ist zu erkennen, warum dies eine Pflanze ist. Was sind Merkmale von Pflanzen im Vergleich zu Lebewesen oder Sachgegenständen wie Autos? Dann bewegen wir uns auf der Merkmalsebene. Mit diesem wichtigen Wissen bilden Kinder Kategorien. Sie gewinnen zudem die Erkenntnis, dass sie in diese Kategorien neue Elemente einordnen können.

 In dieser Ebene können Kinder also schnell zuordnen, in welche Kategorie gehört, was sie da gerade entdeckt haben?

Genau, sie können zum Beispiel bestimmen, ob es sich bei etwas Neuem um ein Lebewesen handeln muss, weil es sich fortbewegt, weil es bestimmte Kriterien für Lebewesen erfüllt. Dafür ist diese Art von Kategorienwissen wichtig.

Nicht alle Kinder sind gleich beim Lernen. Dem einen fällt es leichter, andere tun sich schwerer. Welche Unterschiede gibt es?

Kinder kommen mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in die Kita, aber auch später in die Schule. Wichtig sind dabei beispielsweise die sprachlichen Voraussetzungen, also unter anderem der Wortschatz, auf den ein Kind zurückgreifen kann. Unterschiede gibt es aber auch in der Selbstregulation. Diese betrifft die Art und Weise, wie gut Kinder in der Lage sind, in Situationen selbstgesteuert ihren eigenen Lernprozess voranzubringen. Dazu zählt, sich auf bestimmte Aufgaben zu konzentrieren, Umgebungsimpulse auszusortieren, Lernstrategien anzuwenden, um dann wirklich beim Lernprozess zu bleiben.

Welche Umgebung ist denn optimal für Kinder zum Lernen?

An sich kommt es überall auf die Interaktion mit den Kindern an, also das, was wir unter Prozessqualität verstehen. Es ist wichtig, sich mit den Kindern aktiv auseinanderzusetzen, ihnen Impulse zu geben, sie dort abzuholen, wo sie gerade stehen in ihrer Entwicklung. Für Eltern wie für Fachkräfte ist es wichtig, die Zone der nächsten Entwicklung zu kennen, um diese Prozesse zu gestalten, also die Zone, in der ein Kind mit Hilfe einen weiteren Lernschritt machen kann.

Die Wohlfühlumgebung im Kinderzimmer ist ein Geschäftsmodell. Ist es nicht wichtiger, wenn Eltern oder auch Personal in Kitas und Schulen ein offenes Ohr und Auge haben, was das Kind tut, wo es steht und wo es abgeholt werden kann?

Ganz genau. Wir unterscheiden zwischen einer Qualität der Beziehungsgestaltung und einer Qualität, die zum kognitiven Weiterdenken anregt. Beides ist wichtig. In der Beziehungsgestaltung geht es auch um den Aufbau von Vertrauen. In der Schule geht es beispielsweise auch darum, Fehler machen zu dürfen, sich zu trauen, etwas beizutragen zu einem Gespräch und zu wissen, die Lehrkraft gibt mir konstruktives, förderliches Feedback zu dem, was ich gesagt habe. Aber es geht natürlich auch darum, die Kinder zum Denken anzuregen. Dazu braucht es geeignete Impulse, um beispielsweise an einer Sache dranzubleiben, sich neues Wissen selbstständig anzueignen, nicht aufzugeben und die Kinder auch herauszufordern in ihrem Denken. Das ist möglich auch mit einfachen, alltäglichen Aspekten, die die kindliche Neugier aufnehmen. Fragen, die Kinder selbst stellen, wie kommt es, dass ein Regenbogen entsteht, oder wieso verschwindet eigentlich eine Pfütze, eignen sich gut, um mit dem Kind gemeinsam weiter zu denken.

Also all die Fragen, die ein Kind aufwirft, aufnehmen und dann versuchen, gemeinsam eine Lösung, eine Erklärung zu finden?

Genau, das kann im Gespräch sein, oder aber auch auf Grundlage eines Bilderbuchs oder einer alltäglichen Beobachtung geschehen. Das gemeinsame Betrachten eines Buches ergibt Gesprächsanlässe, bei denen das Kind selber etwas beitragen kann, selber weiter überlegt und sein Wissen, sein Verständnis zeigt. Kinder verstehen schon sehr vieles, auch wenn sie es nicht immer sprachlich ausdrücken. Es gilt, an diesen Punkt heranzukommen und gemeinsam mit dem Kind weiter zu denken, den Kontext zu erweitern.

Einen großen Schritt voran geht es für Kinder, wenn sie von der Kita zur Schule wechseln. Was wird anders mit dem Eintritt in die Schule?

Der Eintritt in die Schule ist eine Übergangssituation. Es ist wichtig, dass dieser Übergang gestaltet wird von den beteiligten Institutionen, von Kita und Grundschule gemeinsam mit den Eltern. Für das Kind verändert sich vieles, beispielsweise auch, dass manche sozialen Kontakte sich erweitern, dass es in eine neue Lerngruppe kommt. Neu ist aber auch, dass das Lernen stärker als bisher in Gruppen stattfindet. Dafür gibt es gerade im Anfangsunterricht Möglichkeiten, wie Lehrkräfte diese Neuerungen gemeinsam mit den Kindern gestalten, auch, was die Regeln betrifft: Worauf einigen wir uns, damit alle gut lernen können? Wozu brauchen wir Gesprächsregeln? Warum ist es sinnvoll zu warten, wenn ich ein Bedürfnis habe, und auf welche Art kann ich das signalisieren? Solche Gruppenprozesse und Prozesse der Lernorganisation werden in der Grundschule deutlich wichtiger und fördern zugleich die Entwicklung von Selbstregulation bei den Kindern.

Bei der Umgebung taucht in der Pädagogik häufig die Aussage auf, dass Kinder sich in der Schule wohlfühlen sollen. Was braucht es dazu, dass ein Kind sich wohlfühlt in der Schule?

Da spielt die Beziehungsgestaltung eine wesentliche Rolle. Ein Kind muss wissen, dass es als Person in seiner Individualität angenommen wird, dass sein Lernprozess individuell unterstützt wird, dass es sich etwas trauen kann, auch Fehler machen darf. Aus Fehlern zu lernen, ist ja ein ganz wichtiger Schritt. Und Lehrkräfte, die dieses individuelle Eingehen auf die Lernschritte der Kinder auch ausführen, schaffen eine konstruktive Lernumgebung.

Zur Umgebung zählt auch das Miteinander. Worauf sollten Lehrkräfte und Eltern ein Augenmerk legen, damit Kinder miteinander auskommen?

Dafür ist das Aufstellen von Regeln des guten Miteinanders wichtig, um den sozialen Prozess in einer Klasse auch zu moderieren. Dabei ist es immer sinnvoll, dass Lehrkräfte diese Grundlagen gemeinsam mit den Kindern entwickeln.

Die Regeln also nicht ans White Board schreiben und verkünden, sondern sie Schritt für Schritt mit den Kindern entwickeln?

Richtig, damit sie auch eine Bedeutung haben und damit allen klar ist, warum wir uns darauf einigen, damit alle besser lernen können. Bei Konflikten beispielsweise geht es darum, die Perspektiven der anderen Personen übernehmen zu können. Das heißt eben auch zu lernen, warum habe ich mich so verhalten, wie sieht das mein Mitschüler, meine Mitschülerin und wie können wir zu einem Kompromiss kommen.  Das erfordert wiederum die Kommunikation zwischen allen Beteiligten.

Also am besten mit den Kindern den Hergang des Geschehens ergründen?

Das kommt natürlich auf den Grad des Konflikts an. Bei kleineren Störungen im Unterricht ist das sicherlich nicht notwendig, da reicht es, auf bestimmte Regeln zu verweisen. Wenn es aber größere Konflikte sind, ist es immer sinnvoll, nach der Situation noch mal ins Gespräch zu gehen und diese Perspektiven zu entwickeln.

Wenn Kinder das früh lernen, ist es gewiss auch eine Prävention für spätere Verhalten wie Cybermobbing.

Selbstverständlich. Das Erlernen von sozialen Kompetenzen beginnt in der Kita, wird natürlich in der Grundschule weitergeführt, kann zudem auch über strukturierte Programme geschehen. Dafür gibt es gut evaluierte Programme zur Gewaltprävention, auch schon in der Grundschule. Es geschieht aber auch in diesen kleinen Situationen, in denen es darum geht, die anderen im Lernprozess als gleichwertig wahrzunehmen.

Zum Lernen gehören auch Hausaufgaben. Manches Kind tut sich schwer, weil es in der Betreuung zu turbulent ist oder zu Hause ganz andere Dinge locken. Was empfehlen Sie?

Die Hausaufgaben sind ein vieldiskutiertes Thema – wie sinnvoll ist es überhaupt, sie zu geben? Sinnvoll daran kann sein, dass letztlich darüber auch Selbstregulation gefördert werden kann, aber nur, wenn dieser Prozess begleitet wird. Auch da sind Kinder unterschiedlich, manche Kinder tun sich leichter, sich auf diesen Lernprozess zu konzentrieren und auch die verführerischen Außenwahrnehmungen auszuschalten. Andere Kinder brauchen mehr Begleitung. Es ist zudem wichtig, die Zielsetzungen mit dem Kind zu formulieren und auch mal gemeinsam zurückzublicken und festzustellen, womit hat sich das Kind besonders schwergetan, was könnte nächstes Mal anders sein. Dazu gibt es auch gute Hilfsmittel wie beispielsweise im Grundschulunterricht das Lerntagebuch. Damit wird nicht nur festgehalten, welche Inhalte und Problemstellungen die Kinder beispielsweise in einem Thema bearbeiten, sie werden auch über Impulse und Rückmeldungen mehr und mehr in die Lage versetzt, ihren eigenen Lernprozess zu reflektieren, also über ihren Lernprozess nachzudenken.

Auch beim Lernen ist nicht ein Kind wie das andere. Wie können Lehrkräfte die Unterschiede ergründen?

Für pädagogische Fachkräfte, aber auch für Lehrkräfte, ist sehr wichtig angesichts der Unterschiedlichkeit, die Kinder eben auszeichnet, genau zu beobachten: Wo steht ein Kind? Was bringt es mit? Welche Fragen kann ich ihm stellen, um zu erfahren, welches Verständnis es schon aufgebaut hat? Welches Wissen liegt schon vor, ohne dass es sofort in Erscheinung tritt? Aber auch, wo liegen die Hürden? Mit diesen Beobachtungen und Einschätzungen können Fachkräfte dann sehr gut überlegen, wo der nächste, passende Lernschritt für jedes Kind ist.

Große Unterschiede gibt es vermeintlich zwischen Jungen und Mädchen. Wenn man Statistiken der letzten Jahre liest, heißt es immer, Mädchen haben die besseren Bildungsabschlüsse. Lernen Sie anders als Jungs?

Nein. Es geht da auch immer um eine Frage der Passung zwischen dem, was angeboten wird, und dem, was ein Kind mitbringt. Tatsächlich ist es der sprachliche Bereich, in dem Mädchen tendenziell im Vorteil sind. Aber das ist nicht so zu verstehen, dass wir Geschlechterunterschiede festschreiben. Es geht eher darum zu fragen, wie schafft man Lerngelegenheiten, die alle Kinder mit ihren Voraussetzungen wahrnehmen. Und wie schaffen wir Möglichkeiten, damit Kinder mit ihren unterschiedlichen Interessen, ihrer Motivation so abgeholt werden, dass sie ausgehend von einem Lernanlass in ihrer Unterschiedlichkeit profitieren können.

Können Sie das an einem Beispiel konkret machen?

Es gibt Kinder, die beispielsweise Unterstützung dabei brauchen, sich sprachlich auszudrücken, wenn sie ein Lernergebnis beschreiben sollen. Da kann man als Lehrkraft als Sprachvorbild agieren, damit das Kind bereits bei der Bearbeitung Impulse bekommt, sich auszudrücken. Es lassen sich auch Hilfestellungen geben wie Wortschatzkarten oder Satzanfänge, die das Kind in die Lage versetzen, seine Ideen besser auszudrücken. Beispiele für Satzanfänge sind:  Ich habe beobachtet…, ich möchte erklären… das ist so, weil…. Solche Satzanfänge helfen Kindern, das sprachlich auszudrücken, was sie schon verstanden haben und damit auch, mit anderen Kindern gemeinsam zu lernen.

Gibt das Kindern Sicherheit, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen und es wiederzugeben.

Es wiederzugeben einerseits, aber auch über die Sprache wieder neue Konzepte, ein neues Verständnis zu erwerben. Es gibt eine sehr enge Verbindung zwischen der Sprachkompetenz und dem inhaltlichen Verständnis. Der Wortschatz wird einerseits dazu genutzt, das eigene Verständnis auszudrücken, aber Sprache ist auch immer wieder ein Ansatzpunkt dafür, neue Ideen zu entwickeln.

Fördern denn Apps auf Tablets oder dem Handy, die Geschichten erzählen, Wissen erklären oder zum Nachsprechen animieren den Wortschatz?

Das kann man so generell nicht sagen. Es gibt natürlich Anwendungen, die zu gewissen Lernvoraussetzungen passen. Wir wissen beispielsweise, dass ein hoher Sprachinput auch mit der Sprachkompetenz und der Entwicklung von Sprachkompetenz einhergeht. Aber man darf nie vergessen, dass das Lernen in der Interaktion passiert. Das heißt, ein unsystematisches, passives Anhören kann Teile einer Sprachkompetenz mit aufbauen, wird aber niemals die Interaktion mit anderen Personen und das Lernen im Gespräch ersetzen.

Das Interview führte Klaus Kühlewind.

Ilonca Hardy /Foto: kakü

Prof. Dr. Ilonca Hardy ist in Berlin tätig und habilitierte sich 2007 an der FU Berlin im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie. Zudem schloss sie das Studium der Grundschulpädagogik an der Freien Universität Berlin im Jahr 2006 ab. Seit 2008 ist sie Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik und Empirische Bildungsforschung an der Frankfurter Goethe-Universität Frankfurt. Sie gehört zudem dem Leitungsteam der Didaktischen Werkstatt / Arbeitsstelle für Diversität und Unterrichtsentwicklung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften an.

Ilonca Hardy stammt aus Bayern und wohnt nach Aufenthalten in den USA und Berlin seit 2008 mit ihrer Familie in Frankfurt. Sie hat drei Kinder und einen Hund, singt in einem Chor und genießt Spaziergänge im Naturschutzgebiet des Frankfurter Osten.

5. März 2025
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