Kinder mit Einschränkungen haben in Deutschland ein Recht auf Bildung – wie alle anderen Kinder auch. Warum aber scheitern so viele Schulen immer noch beim Thema Inklusion? Und warum sieht die Gesellschaft noch immer die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt – unterbezahlt, unsichtbar – als erste und letzte Station eines Arbeitslebens für behinderte Jugendliche und junge Erwachsene vor?
Wir haben uns mit Eltern eines Kindes mit einer geistigen und körperlichen Beeinträchtigung über die vielen zermürbenden Versuche unterhalten, ihrem Sohn Paul* eine „normale“ Schullaufbahn zu ermöglichen. Heute ist Paul 18 Jahre alt. Zurzeit ist er ohne Abschluss zuhause. Hätte er nicht engagierte Eltern, die den Schulen und Institutionen einen Großteil der inklusiven Arbeit abgenommen haben, gäbe es für ihn trotz seiner vielen Talente, Interessen, seiner sozialen Kompetenz und Selbständigkeit keine Alternative mehr zum Sonderschulsystem. Wir haben uns mit Pauls Eltern unterhalten.
Dass Paul eine Beeinträchtigung haben könnte, wurde den Eltern bereits in der Schwangerschaft bewusst. Eigentlich war Karla* mit Zwillingsjungen schwanger, die sich eine Plazenta teilten. Doch in der 21. Schwangerschaftswoche verstarb eines der Kinder. Stirbt ein Zwilling als Fötus, kommt es in der Regel zu einer Fehlgeburt. Überlebt der andere kann es zu schweren Beeinträchtigungen, wie beispielsweise Schädigungen am Gehirn des verbleibenden Fötus, kommen. „In diesem Fall raten die Ärzte den Eltern immer zu einem Abbruch. Für uns kam das aber nicht in Frage“, stellt Karla klar. Und zu ihrem großen Glück konnte der Pränataldiagnostiker im großen Ultraschall keine Schäden am Gehirn feststellen. Dass doch etwas „nicht normal“ war, zeigte sich erst drei Monate nach der Geburt, als die Eltern bemerkten, dass Paul die rechte Hand nicht bewegen konnte. Untersuchungen belegten: die rechte Seite seines Körpers war von einer Spastik betroffen. Durch den Tod des Zwillings war es vorgeburtlich zu einer Cerebralparese gekommen. Trotzdem. Paul entwickelte sich gut. „Wir haben dann in unserem Wunschkindergarten, einem Waldorfkindergarten in der Nähe, einen Platz für ihn bekommen“, erzählt die Mutter. „Die vier Jahre dort waren für ihn bisher die besten. Er wurde in seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten genauso wahrgenommen wie alle Kinder.“
Die eigentlichen und bis heute anhaltenden Schwierigkeiten begannen mit der Einschulung. „Die Waldorfschule, unsere Wunschschule, traute es sich nicht zu. Sie empfahlen eine Förderung in kleineren Gruppen.“ Die Eltern mussten sich schließlich erst einmal von ihrem Wunsch nach einem inklusiven Schulbeginn verabschieden, Paul würde eine Förderschule besuchen. So der Plan. Aber: „Es ging von Anfang an schief. Unser Sohn war mit sechs anderen Kindern in einer Klasse, die teilweise sehr verhaltensauffällig waren. Paul wurde bedrängt, seine Sachen wurden zerrissen. Und: Er sollte das fehlende Sozialverhalten der anderen kompensieren und fühlte sich dem schutzlos ausgeliefert. Er war ja ein wertschätzendes Miteinander gewohnt und verstand die Welt nicht mehr“, berichtet die fünffache Mutter. Hinzu kam, und das wurde für die Eltern das größte Problem: diese Schule war sehr weit entfernt. Paul musste also jeden Morgen 90 Minuten vor Schulbeginn von einem Fahrdienst abgeholt werden und wurde mittags auch wieder 90 Minuten nach Hause gefahren. „Paul stieg also jeden Morgen im Dunkeln in ein Auto zu einem extrem unfreundlichen und mürrischen Fahrer, der – wie wir später erfuhren – ein Alkoholproblem hatte und der dementsprechend fuhr. Paul konnte sich damals noch nicht so gut ausdrücken. Wir verstanden erst einmal nicht, wo das Problem lag. Aber sobald er morgens in das Auto steigen musste, hat er sich übergeben. Spätestens da hatten wir es verstanden.“ In dieser Zeit bekam Paul zum ersten Mal epileptische Anfälle als Reaktion auf den großen Stress. Die Anfälle sind bis heute geblieben – trotz vieler Therapien, schwerer Medikamente und Hirnimplantat. Sie werden getriggert durch Situationen, in denen er sich, ähnlich seiner ersten Schulerfahrung, ausgeliefert fühlt.
Erst einmal leistete die Familie von da an die Fahrten eigenständig, aber im Laufe der ersten Monate stellte sich heraus, dass „kein förderbedarfsgerechtes Lernen in der Kleingruppe stattfand. Sondern durch die emotionale Überforderung gar kein Lernen möglich war, dort weder Inklusion noch echte Schulbildung stattfand,“ rekapituliert Karla.
„Keine Schule wollte ihn“
Die Suche nach einer Schule, die zur Inklusion bereit war, begann aufs Neue. „Keine Schule wollte ihn“, Karla erzählt es nüchtern. Viele vielversprechende Erstgespräche, viele Enttäuschungen, viele Absagen. „Als ich Paul von einem Probetag abholte, sagte mir der Schulleiter ohne jede Empathie oder Höflichkeit ins Gesicht: ‚Das hier hat überhaupt keinen Sinn!‘ Eigentlich bin ich sehr nervenstark. Aber an dem Tag musste ich auf dem Heimweg so sehr weinen … und Paul auch.“ Doch als sich eine Grundschule in einer Nachbarstadt bereit erklärte, ihn aufzunehmen – sie starteten gerade mit einer integrativen Außenklasse –, konnte Paul dort eingeschult werden. Zum zweiten Mal mit Zuckertüte und Familienfest. Die Eltern waren überglücklich und die Grundschulzeit verlief super. Auch der neue Fahrdienst war freundlich und zuverlässig. Soweit es ihm möglich war, erlernte Paul die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen, er hatte Freunde und eine echte Klassengemeinschaft. Mit dem Ende der Grundschulzeit war erst einmal wieder Schluss mit Normalität.
Ist es für Grundschulen inzwischen, wenn auch nicht normal, so doch möglich, Inklusion anzubieten und umzusetzen, fühlen sich weiterführende Schulen „komplett überfordert“, so Karla. „Dabei gibt es nicht nur die für Deutschland verbindliche UN-Behindertenrechtskonvention, sondern auch ausgearbeitete Leitlinien des Schulamtes, wie Inklusion gelingen kann. Mit differenziertem Lernmaterial, mit dafür ausgebildeten Sonderpädagogen und einem Schulamt, das dazu bereit ist.“ Doch statt Inklusion herrsche Überforderung. Paul hatte dann noch mal vier wirklich tolle Jahre, weil er einen engagierten Sonderpädagogen bekam, der Inklusion als ein „Herzensthema“ für sich entdeckt hatte und sich weit über seine Kräfte hinaus für die Schüler mit Beeinträchtigung einsetzte. Die Schule – die Leitung, die anderen Lehrer – nahmen seine Mehrarbeit gern an. Alles wurde diesem einen Pädagogen aufgelastet. Aber so kann das Thema natürlich nicht wachsen.
„Alle Lehrer aller Schulen müssten sich bereits im Studium damit beschäftigen“, ist Pauls Vater überzeugt. „Und zwar nicht freiwillig, sondern es müsste ihre Pflicht sein. Damit Inklusion nicht länger ein Wunschkonzert ist. Damit Eltern nicht dankbar sein müssen, wenn ihr Kind inklusiv beschult wird. Damit Lehrkräfte mit behinderten Kindern nicht länger so kommunizieren, als wäre deren Beschulung sinnlos oder zweitrangig, sondern auf Augenhöhe. Und damit sich die Schüler nicht als Fremdkörper wahrnehmen, die – wenn nicht zufällig ein engagierter Lehrer vor Ort ist – als Störfaktor in die letzte Reihe gesetzt und mit dem Tablet ruhiggestellt werden.“
Die Eltern sind überzeugt: „Wenn engagierten Sonderpädagogen wegen mangelnden Rückhalts im Team die Kraft ausgeht, findet keine Inklusion mehr statt und somit auch keine Bildung für die Schüler im inklusiven Bildungsangebot.“
Viele, viele schlaflose Nächte
Es folgten Schulwechsel, zermürbende Streitigkeiten mit Schulleitungen und Institutionen und viele, viele, schlaflose Nächte. Und immer wieder heftige epileptische Anfälle von Paul, wenn es um das Thema Schule ging. „Wie soll eine Zukunft für unseren Sohn aussehen?“, sorgt sich Karla. „Noch ist er in unsere große Familie eingebunden, und deshalb nicht einsam, aber das wird nicht immer so sein. Paul muss eine Zukunft auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Er muss die Möglichkeiten bekommen, einen Beruf nach seinen Interessen und Stärken zu ergreifen und soziale Kontakte zu leben, in der Gesellschaft und für die Gesellschaft zu leben und zu arbeiten … denn das ist sein Recht!“
Inzwischen unterrichtet Karla Paul zuhause. Durch intensive Bemühungen und Kontakte haben ihm die Eltern einen Praktikumsplatz in einem Start-up ermöglichen können, das sich mit Solidarischer Landwirtschaft beschäftigt. Hier blühte Paul auf und fühlt, dass er beiträgt zum Gelingen des Betriebes. Und, wenn „man einen Wunsch an eine gute Fee hätte“, hofft Karla, könnte sich dort für Paul ein echter Arbeitsplatz ergeben. Bisher sieht es gut aus. Die Eltern bekommen positive Rückmeldungen und arbeiten zuhause das nach, was ihm tagsüber begegnet ist. Welches Gemüse er geerntet hat, was man damit kochen kann, woher es stammt …
So viele Baustellen. So viele Barrieren stellen sich Eltern mit behinderten Kindern in den Weg. Was könnte sich ändern? Was muss sich ändern? Karla überlegt. „Es muss sich so vieles ändern. Aber nicht nur im Schulsystem, sondern auch in den Köpfen der Menschen: Inklusion muss selbstverständlicher Alltag werden. Wir sind eine vielfältige Gesellschaft und Kinder mit Behinderungen sind ein Teil dieser Vielfalt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
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* Aufgrund von Persönlichkeitsrechten haben wir die Namen der Familie verändert.