Sonderschulen abschaffen? Auf keinen Fall! Ein spannendes Interview mit Mutter und Tochter.
SLK: Emilia, Du besuchst die vierte Klasse der Stephen-Hawking- Schule in Neckargemünd. Was ist das Besondere an Deiner Schule?
EMILIA: In meiner Schule habe ich ein Jahr mehr Zeit für die Grundschule und es gibt Sonderschullehrer, die sich mit körperbehinderten Kindern gut auskennen. Außerdem habe ich die Therapien, die ich brauche, in der Schule und muss nachmittags nicht privat da hin. Sonst ist meine Schule – glaube ich – ganz normal. Wir machen genauso viel Quatsch wie alle anderen auch. Wir sind zum Beispiel bekannt als Plapperklasse.
SLK: Auch Du besuchst die Schule, weil Du eine körperliche Behinderung hast. Was hast Du genau?
EMILIA: Ich habe Dystonien. Das heißt, ich kann meine Bewegungen nicht so genau steuern wie Menschen ohne
Behinderung. Deshalb schreibe ich mit dem Laptop, nicht mit der Hand, und spreche auch ein bisschen anders.
SLK: Wirst Du oft darauf angesprochen?
EMILIA: Oh ja, sehr oft!
SLK: Was nervt Dich mehr? Deine körperlichen Einschränkungen oder die blöden Fragen der anderen?
EMILIA: Ganz klar, die blöden Fragen. Noch mehr nerven mich aber die Blicke und wenn die Leute dann meine Eltern fragen, was ich habe und nicht mich, obwohl ich nebendran stehe.
SLK: Und? Was machst Du dann?
EMILIA: Also, wenn die Leute mich anstarren, sage ich manchmal von selber was ich habe, auch wenn sie nicht fra-gen. Manchmal erlebe ich aber auch Dinge, die nicht so schön sind. Einmal wollte ich hier über den Spielplatz gehen und dann hat ein Junge laut gerufen: „Da kommt wieder die Komische“. Später hat er mich angesprochen und gesagt, ich soll aufhören, so zu reden. Das würde seine Schwester erschrecken. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht anders sprechen kann, da ist er weggelaufen.
SLK: Welches sind Deine Lieblingsfächer?
EMILIA: Freistunden, Sport, Kunst, Mathe.
SLK: Der Weg nach Neckargemünd jeden Tag hin und zurück ist weit. Du musst sehr früh aufstehen und kommst spät nach Hause. Du könntest auch hier vor Ort in die Grundschule gehen. Wolltest Du das nicht oder wollten Deine Eltern das nicht?
EMILIA: Wir beide, aber damals war ich ja noch klein.
SLK: Und warum nicht?
EMILA: In der normalen Schule hätte ich keine Therapien. Ich kann ja nicht gut mit der Hand schreiben und ich kann auch nicht so lange am Stück tippen und in einer normalen Schule könnte ich auch nicht so viele Pausen haben.
PETRA: Wir haben uns für diese Schule entschieden, weil wir wollen, dass unsere Tochter die für sie größtmögliche Bildung erlangen kann. Ich spreche hier nicht nur von schulischer Bildung. Wir wollen, dass unsere Tochter später ein eigenständiges Leben führen kann und das bedeutet in ihrem Fall, dass ihr nicht nur der normale Lernstoff vermittelt wird, sondern auch lebenspraktische Fertigkeiten, die sie so auf einer normalen Grundschule nicht lernen könnte.
SLK: Zum Beispiel?
PETRA: Das sind ganz banale Dinge: Zum Beispiel, wie kann ich Essen kochen, wenn ich Schwierigkeiten habe, ein Messer zu halten. An der SHS sind Fachkräfte, die Lösungen finden. Das kann ich gar nicht alles leisten. Ich bin Mutter, keine Sonderpädagogin und keine Ergotherapeutin. Und an einer normalen Schule geht das sowieso nicht.
SLK: Aber es gibt doch auch Pädagogen, die Kinder in der Schule begleiten können.
PETRA: Ja, aber die drei sonderpädagogischen ischen Stunden pro Woche, die Emilia zugesprochen werden würden, würden nicht ausreichen und sich nur auf das Schulische beziehen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Lehrern und Therapeuten erachten wir für die Entwicklung unserer Tochter als unabdingbar. Da ist sie an der SHS bestens versorgt.
SLK: Emilia, ist es nicht schwierig, außerhalb der Schule Freunde zu treffen? Viele deiner Klassenkameraden wohnen doch sicherlich weiter weg?
EMILIA: Das stimmt, aber wir haben ja nur morgens Unterricht und können in der Schule viel zusammen machen. Außerdem gibt‘ s ja die Wochenenden.
PETRA: Emilia geht reiten, in eine Sportgruppe und sie ministriert, wie viele andere Kinder auch. Außerdem verabredet sie sich in der Schule während der unterrichtsfreien Zeiten mit ihren Freunden aus der Schule. Emilia hat Freunde mit und ohne Behinderung.
EMILIA: Das stimmt, aber ich hätte gerne mehr Freunde aus der Nachbarschaft.
SLK: Emilia, was möchtest Du später einmal werden?
EMILIA: Grundschullehrerin, oder was mit Medizin. Aber Grundschullehrerin wird wohl nicht gehen.
SLK: Warum nicht?
EMILIA: Naja, ich kann halt nicht so gut sprechen und wenn ich dann Kinder unterrichten würde, dann lernen die vielleicht falsch Schreiben. Außerdem kann es ja immer sein, dass ich mitten im Unterricht Krämpfe kriege. Und als Lehrerin kann ich ja dann nicht einfach raus gehen.
SLK: Petra, Du bist sehr engagiert, ihr habt sogar einen Verein gegründet. Arbeitskreis Sonderschulen Rhein-Neckar. Warum?
PETRA: Vor zwei Jahren haben wir uns als lockerer von Elternbeiräten verschiedener Sonderschulen
im Rhein-Neckar-Kreis getroffen. Wir haben mit immer größerer Sorge den Prozess der Inklusion, wie er im Moment läuft, beobachtet und erkannt, dass wir eine gemeinsame Stimme brauchen, um in der Öffentlichkeit das Thema Sonderschulen in den Blickpunkt zu rücken. Uns war wichtig, das Bild, das im Moment in den Medien dargestellt wird, zurechtzurücken.
SLK: Was ist denn falsch an dem Bild?
PETRA: Sonderschulen sind längst keine Abschiebeschulen mehr. So werden sie aber dargestellt. Die meisten arbeiten seit Jahren mit Außenklassen und viele arbeiten – wie die SHS – inklusiv. Wir sehen unsere Kinder nicht ausgegrenzt. Nur durch gezielte Förderung haben unsere Kinder überhaupt eine Chance auf Teilhabe an dieser Gesellschaft. Uns ist wichtig, dass diese Recourcen erhalten bleiben. Das Sonderschulsystem hat sich über Jahre entwickelt, es gibt sehr gut ausgebildete Lehrer, Erzieher und Betreuer, die wunderbare Arbeit leisten.
SLK: Das klingt fast so, als fändest Du Inklusion nicht so wichtig.
PETRA: Doch, natürlich! Aber Inklusion, wie sie im Moment läuft, halten wir für viele Kinder für nicht vertretbar. Es ist positiv zu sehen, dass jeder Lehramtsstudent jetzt auch einen Bereich Sonderpädagogik abzudecken hat. Wir Eltern haben aber Sorge, dass die Studiengänge Sonderpädagogik hier geopfert werden ausgebildeten Sonderpädagogen mehr geben wird.
SLK: Also geht es vor allem um den Erhalt der Sonderschulen?
PETRA: Genau. Sonderschulen schließen ja Inklusion nicht aus. Aber Inklusion darf nicht auf Kosten bestehender Sonderschulen gehen, wie das momentan der Fall ist. Sonderschulen haben immer häufiger Unterrichtsausfälle, da die Lehrer der Sonderschulen als Inklusionslehrer in die Regelschulen gehen.
SLK: Inklusion für alle – geht das überhaupt?
PETRA: Das kann natürlich machbar sein. Aber, hat auch jedes Kind einen Nutzen davon, inklusiv beschult zu werden? Viele Behinderungsformen erfordern ein geschütztes Umfeld. Kindern mit schwerem Autismus oder mit Schwerstmehrfachbehinderung ist nicht damit gedient, in großen Klassen unterrichtet zu werden. Abgesehen davon, dass viele Kinder einfach andere Lerninhalte benötigen, als nicht-behinderte Kinder. Und es geht auch anders. An der SHS zum Beispiel werden Kinder in fast allen Bildungsgängen inklusiv unterrichtet. Hier gibt es das Know-how, mit schulspezifischen Behinderungen umzugehen. Inklusion heißt für mich nicht, Kinder unterschiedlicher Behinderung unter dem Begriff Gruppeninklusion in eine gemeinsame Klasse mit Kindern ohne Behinderung zu stecken und dann einen Sonderpädagogen einer einzigen Fachrichtung ‚dazuzugeben‘.
Was bitte soll – bei allem Respekt – ein Lehrer der Blindenschule mit meinem Kind anfangen?
SLK: Wie müsste die ideale Schule aussehen, damit wirklich alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden können?
PETRA: Zuallererst müsste man das aktuelle Schulsystem komplett abschaffen. Wie erkläre ich einem nichtbehinderten Kind, es darf das Gymnasium wegen schlechter Noten nicht besuchen und auf der anderen Seite dürfen Kinder mit geistiger Behinderung eventuell diese Schule besuchen? Wenn Gerechtigkeit, dann bitte für alle! Eine Schule für alle braucht Freiräume, keinen Notendruck und viel Toleranz und Rücksicht – von beiden Seiten. Und, da stehen wir noch ganz am Anfang!
(Das Gespräch führte Sarah Hinney/ Bilder: Simon Hofmann)
Info:
„Arbeitskreis Sonderschulen Rhein-Neckar“ – was ist das?
Im Verein „Arbeitskreis Sonderschulen Rhein-Neckar“ engagieren sich Elternvertreter verschiedener Sonderschulrichtungen, die alle seit vielen Jahren in der Elternarbeit tätig sind. Vorsitzender ist Dr. Stefan Stötzel, Elternbeiratsvorsitzender der Martinsschule in Ladenburg. Petra Vecchio, die Mutter von Emilia, ist stellvertretende Vorsitzende. Der Verein ist offen für Betroffene, Eltern, Lehrer und alle, die sich engagieren möchte.
Der Verein ist nicht gegen Inklusion, sondern für das Bestehen des Elternwahlrechtes und damit für den Erhalt von Sonderschulen, als Einrichtungen, in denen sich Fachkräfte kompetent um die Kinder kümmern, egal welche Behinderung sie haben und Therapien in den Schulalltag eingebunden werden.
Kontakt
Zu Besuch an der Stephen-Hawking-Schule
Die SRH Stephen-Hawking-Schule in Neckargemünd ist eine staatlich anerkannte Privatschule mit 750 Plätzen für Tages- und Internatsschüler. Das integrative Angebot mit flexiblen und durchlässigen Bildungsgängen ermöglicht individuelle Schullaufbahnen. Die Schule bietet zehn Bildungsgänge an: Von der Grundschule bis zum Gymnasium. StadtLandKind hat
die Schule besucht:
Ich bin etwas erschlagen, als ich vor dem gewaltigen und zweifellos ziemlich hässlichen Gebäude einen Parkplatz suchen. Umso größer ist die Überraschung beim Betreten. Hier gibt es einen Empfang, das habe ich an einer Schule noch nie erlebt. Und genau das werde ich auch. Empfangen. Herzlich, schon direkt hinter der Tür. Ebenso herzlich weist man mir den Weg. Überall sind Kinder und alle sind freundlich.
Ich bin mit Ina Kumlehn verabredet. Sie ist Leiterin der Außenklassen des Primarbereichs und Leiterin der Grundschule. Sie nimmt sich viel Zeit für mich und zeigt mir die komplette Grundschule. Emilia treffe ich an diesem Vormittag leider nicht, sie ist irgendwo unterwegs, aber ich darf einen Blick in ihr Klassenzimmer werfen. Es sieht so aus, wie jedes andere Klassenzimmer auch, wären da nicht die vielen Computer, an denen die Kinder einfach leichter arbeitet können.
Auffällig ist, dass ich noch nie eine Schule gesehen habe, in der so viele Bilder an den Wänden hängen, so viele Schaukästen und Fotos von den zahllosen Aktivitäten dieser Kinder zeugen. Egal, ob im Sport, ob musikalisch oder künstlerisch, das Angebot hier ist riesengroß.
In der Pause öffnet einer kleiner Laden, in dem „Faire“ Produkte verkauft werden, auch Selbstgebasteltes direkt aus der Schule ist natürlich dabei. Der Laden wird heute von zwei Schülerinnen „geführt“, sie kümmern sich um Verkauf und Kasse. Aber nicht immer, „das wechselt“, erzählt mir eins der Mädchen. Im Schulalltag lernen die Kinder so nicht nur dem Umgang mit Geld und mit Waren, sie übernehmen auch Verantwortung.
Beim Laufen durch die Gänge an der Seite von Ina Kumlehn verliere ich schnell die Orientierung. Ständig flitzen Kinder in Rollstühlen an mir vorbei. Irre schnell, da kann ich zu Fuß nicht mithalten. Emilia hat mir erzählt, sie wollte lange Zeit auch gerne einen Rollstuhl haben, auch wenn sie natürlich froh ist, dass sie laufen kann. Jetzt weiß ich auch warum sie einen wollte. Man ist einfach viel schneller.
Es gibt in dieser Schule einfach alles. Eine schöne Bibliothek, in der man sich gerne in eine Ecke kuscheln und Bücher anschauen möchte. Es gibt Computer- und Werkräume. Es gibt Gymnastikräume für die Therapien der Kinder und spätestens, als ich den wunderschönen Schulhof der Grundschule sehe, auf dem gerade die Kinder toben, wird mir eins klar:
So solle es sein. So wie diese, so sollte eigentlich jede Schule aussehen. Ich kann jedenfalls verstehen, dass Emilia hier richtig gern hingeht. Auch wenn sie Ferien noch lieber mag.
shy