Die Kinder von heute sind wie Teletubbies? Und Schwierigkeiten im Familienalltag sind nur Symptome? … Der dänische Familientherapeut Jesper Juul im StadtLandKind-Interview.
Lieber Herr Juul. In Ihrem neuen Buch, dem „Familienhaus“ geht es um vieles, aber nicht um Harmonie. Eigentlich dachten wir ja, dass Harmonie die Grundlage einer gelungenen Beziehung ist?
Das Leben eines Paares ist immer in Bewegung wie ein Pendel und bewegt sich ständig zwischen Nähe und Distanz. Die meisten von uns wurden in der Überzeugung erzogen, dass nur große Nähe und Verbundenheit gut und wünschenswert ist. Aber: Umso mehr wir uns an Nähe und Harmonie klammern, umso mehr müssen wir unser Bedürfnis nach Getrenntsein unterdrücken, und die Tatsache, dass jeder von uns – obwohl wir uns lieben – als Mensch nun mal ganz unterschiedlich ist.
Konflikte sind also überhaupt nichts Negatives?
Nein, ganz und gar nicht. Ein Konflikt bedeutet lediglich, dass zwei Menschen unterschiedliche Dinge zur selben Zeit wollen. Das „Kein-Konflikt-Ideal“ wurde von den alten Patriarchen (und Matriarchen) erfunden, die Konflikte als einen Angriff auf ihre Macht erlebten. Nur wenige von uns wuchsen in Familien auf, die konstruktive Methoden kannten, mit Konflikten umzugehen. Deshalb müssen wir, um ein sinnvolles Miteinander leben zu können, ganz neue Fähigkeiten entwickeln.
Die Schwierigkeiten im Alltag sind bloß Symptome, schreiben Sie. Wie können Familien herausfinden was sich dahinter verbirgt?
Durch nachdenken, reflektieren und darüber sprechen, anstatt die eigene Zeit und die des anderen zu verschwenden, weil man über die Symptome streitet.
Sie vergleichen die Kinder von heute mit dem Zustand der Teletubbies. Kinder, die vor jeder Art von Entbehrung, Schmerz und Frustration bewahrt werden. Warum sollten Kinder diese negativen Erfahrungen machen müssen?
Weil sie nicht negativ SIND: Sie sind Teil jedes menschlichen Lebens und indem wir unsere Kinder davor schützen wollen, verhindern wir bei Ihnen die Entwicklung wirklich wichtiger Fähigkeiten. Wenn wir darauf bestehen, dass das Leben entweder gut oder schlecht ist, kommen wir in große Schwierigkeiten. Das Leben und die Menschen sind wie sie sind. Nicht gut oder schlecht – sie sind einfach – und je mehr wir sie in Kategorien einteilen, umso schwieriger wird es, lebendige Beziehungen zu gestalten.
Die Vorstellung, dass Eltern automatisch wissen, was das Beste für ihr Kind ist, macht uns bequem und dumm, lesen wir im „Familienhaus“. Eigentlich dachten wir, dass wir tatsächlich wissen, was das Beste für unsere Kinder ist …
Dem stimme ich zu! Wir müssen in vielen allgemeinen Lebensbedingungen besser Bescheid wissen. Zum Beispiel ist es Teil unserer Verantwortung, den Unterschied zu erkennen, zwischen dem was Kinder brauchen und dem was sie sich wünschen. Es gibt aber einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen mehr zu wissen oder sich wie ein „Besserwisser“ zu benehmen.
Sie schreiben, dass es in der Kindheit zwei entscheidende Momente gibt. Die Trotzphase mit zwei, drei Jahren und die Pubertät. Viele Eltern denken, dass ihre Einflussnahme und ihr Stellenwert bei den Kindern mit deren Eintritt in die Pubertät enden. Kann man begangene Fehler wirklich noch korrigieren, wenn die Kinder 14, 15 Jahre alt sind?
Oh ja! Sie können ihr Kind nicht ändern, aber Sie können Ihr eigenes Verhalten verändern und dadurch eine stärkere Beziehung zu Ihrem Kind aufbauen. Haben Sie Ihrem Kind nie wirklich zugehört, beginnen Sie gleich heute damit. Hatten Sie bisher den Fokus auf eigenen Plänen und Träumen für Ihr Kind, können Sie gleich heute damit beginnen, Interesse an den Plänen und Träumen Ihres Kindes zu haben. Es mag für Sie nicht leicht sein, aber es ist jedem Elternteil möglich, das ein Interesse an einer starken, nahen und lebenslangen Beziehung zu seinem Kind hat.
Stichwort „Trotzphase“: Natürlich will niemand Machtkämpfe mit seinem Dreijährigen, aber es müssen doch Grenzen gesetzt werden … dachten wir. Nun sagen Sie aber, dass die Forderung nach Grenzen für Kinder „unglaublich“ sei.
Ich weiß, dass ich bei diesem Thema eine Meinung vertrete, die einer langen und mächtigen Tradition entgegensteht. Ich schlage vor, dass Sie einmal Ihr 2 bis 3 Jahre altes Kind so betrachten, als hätten Sie es von einem indianischen Stamm aus dem Amazonasgebiet adoptiert. Natürlich muss er oder sie mit Ihren persönlichen und den jeweiligen kulturellen Grenzen vertraut werden – aber auf eine freundliche Art und Weise.
Kein Kind hat jemals von sich aus einen Machtkampf begonnen.
In diesem Alter ist es nun mal die Aufgabe des Kindes unabhängiger zu werden und seine Fähigkeiten zu erweitern. Unterstützen Sie es in seinen Anstrengungen und genießen Sie seinen Erfolg – und die Kinder wiederum werden lernen, Ihre Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren. Nicht immer ohne Kampf, aber sie kämpfen um zu kooperieren, nicht um ihre Eltern zu bekämpfen.
Stichwort: „Strafe und Belohnung sind zwei Seiten derselben schlechten Sache.“ Kann man tatsächlich ohne diese beiden Erziehungsmittel auskommen?
Ja, natürlich! Das ist leicht – oder eben genauso leicht wie es für ein Paar ist, zusammenzuleben und ohne Ausübung dieser beiden Machtmittel ihre Konflikte zu lösen. Der Gebrauch von Strafe und Belohnung als Mittel, die Kinder zum Gehorsam zu manipulieren, ist ein rein kulturelles Phänomen – und nichts Natürliches.
Was bedeutet die Aussage: Eltern müssen es zulassen, dass Kinder ihr Leben bereichern, auch wenn es wehtut? Bereichern ist doch etwas grundlegend Positives?
Hier ist es wieder – die Einteilung in Kategorien wie positiv und negativ. Als ein Erwachsener müssen Sie nur auf Ihr Leben und Ihre Erfahrungen zurückschauen und Sie werden feststellen, dass die Erfahrungen und Begegnungen, die unerfreulich waren, sich als die am meisten bereicherndsten Erfahrungen herausstellten. Glücklichsein und Harmonie sind wohlverdiente Oasen der Ruhe und Erholung, aber sie lassen einen Menschen nicht wachsen.
Nachdem viele Familien die Stillkrise und die Schlafkrise bewältigt haben, kommt oft die Kleiderkrise. Unnötig!, lesen wir im Familienhaus. Kinder sollten selbst entscheiden, was sie anziehen. Meine Tochter würde selbst im Winter jeden Tag ein Glitzerkleid und Sandalen anziehen …
Das könnte sein, aber man sollte das auch nicht zu einem großen Problem machen. Sagen Sie ihr offen Ihre Meinung zu der getroffenen Auswahl und geben Sie ihr warme Ersatzkleidung mit. Wenn niemand versucht, sie zum Wechseln zu drängen, wird sie wohl von selbst kommen und nach warmer Kleidung fragen. Umso mehr ihre Eltern versuchen „recht“ zu haben, umso mehr wird sie den Eindruck bekommen, dass bei ihr etwas falsch läuft. Wenn sie ein starkes und gesundes Kind ist, wird sie natürlich lieber frieren, als sich dumm und „falsch“ zu fühlen.
Sorgen sollen wir uns auch nicht mehr machen. Warum ist Besorgnis eine „Misstrauenserklärung“ an das Kind?
Weil die Botschaft dann lautet: „Ich bin mir nicht sicher, ob Du ohne mich auskommen wirst.“ Die eine Hälfte der Kinder wird sich unfähig fühlen, die andere Hälfte wird ein rücksichtsloses Verhalten entwickeln, das dann wirklich Anlass zur Sorge geben wird. Diese Gruppe wird ein falsches Verständnis der eigenen Fähigkeiten entwickeln und wird nicht um Hilfe bitten, wenn es nötig sein wird.
Eltern können sich ruhig so viel sorgen, wie sie wollen – solange sie es ihren Kindern nicht zeigen und sagen.
Sollen wir Kinder wirklich von Anfang an ihre eigenen Entscheidungen treffen lassen? Müssten wir dann nicht ständig diskutieren?
Nein! Kinder sollten ihre Entscheidungen nicht selber treffen, und schon gar nicht alleine. Ihre Meinungen sollten gehört werden, besprochen werden und dann entscheiden die Eltern, was zu tun ist. Das geht ja nicht nur Kindern so, sondern gilt für Menschen jeden Alters: nimmt man die Menschen ernst und trifft für sein eigenes Leben wohlüberlegte Entscheidungen, haben sie nicht das Bedürfnis gewinnen zu müssen.
„Wie man seine Kinder erziehen soll, weiß man erst, wenn man damit fertig ist“ …. Das kann doch nicht wahr sein! Man muss doch einen Plan, ein Konzept haben! Und vor allem: wenn Eltern nicht mehr das Gefühl haben können, die Dinge besser zu wissen – vielleicht nicht besser als andere Eltern, aber zumindest als die Kinder. Was bleibt dann noch?
Was ich damit gemeint habe ist: nach zwei oder drei Kindern werden wir oft zu den Eltern, die wir gerne von Anfang an gewesen wären. Aber, erst wenn unsere Kinder selbst Eltern werden, können wir die Ergebnisse unserer eigenen Erziehung erkennen. Und, wie ich schon sagte, Eltern sollten mehr über das Leben und die Welt wissen als kleine Kinder, aber niemand kann wirklich wissen, wie ein Kind zu erziehen ist, bevor es geboren wurde.
Weltweit verschlingen und zitieren Eltern Ihre Bücher, Ratgeber und Interviews. Aber deutsche Eltern scheinen besonders bedürftig … Was meinen Sie, woher kommt diese große deutsch Fangemeinde? Was spricht speziell deutsche Eltern an – oder sind deutsche Eltern (Mütter?) besonders verunsichert und ratlos?
Ich glaube nicht, dass ich in Deutschland eine größere Fangemeinde habe. Genauso ist es nämlich in den nordischen Ländern und auch beispielsweise in Slowenien. Tendenziell suchen junge Eltern in Ländern mit einer sehr autoritären Vergangenheit intensiver nach Alternativen. Der entscheidendste – und auch der beunruhigendste – Unterschied zwischen Deutschland und beispielsweise Dänemark ist, dass ihr Deutschen darauf besteht, dass es (nur) einen (einzigen) richtigen oder falschen Weg gibt. Den gibt es nicht.
Bettina Wolf // Fotos: Beltz Verlag , Weinheim
Jesper Juul ist ein dänischer Familientherapeut und zurzeit der erfolgreichste Autor vielfältiger Erziehungsratgeber. Vom „Spiegel“ wurde er als „Popstar der Ratlosen“ betitelt. Die „Zeit“ feierte ihn als „Sokrates unter den Pädagogen“. StadtLandKind hat sich mit Jesper Juul über sein Buch „Familienhaus“ unterhalten, das vor kurzem im Weinheimer Beltz Verlag als Taschenbuch erschienen ist. Und hat erfahren, dass es in Familien vor allem um Beziehungen geht – und nicht um Erziehung.