Sehr geehrter Herr Juul: „Essen kommen“ heißt die Neuauflage Ihres jüngsten Buches. Warum sind gemeinsame Mahlzeiten so wichtig?
Gemeinsame Mahlzeiten bekommen nur dann eine Bedeutung, wenn beide Eltern das Essen zum Anlass nehmen, etwas über ihre Kinder und deren Erlebnisse zu erfahren und einen Eindruck davon gewinnen wollen, welche Atmosphäre gerade in der Familie herrscht.. Sie verändert sich täglich und hängt vor allem mit der Laune der Eltern zusammen und wie sie sich in dem Moment verstehen – oder auch nicht. Jedes Paar weiß, dass eine Beziehung (vom gefühlsmäßigen Standpunkt aus) niemals die ist, die sie am Tag zuvor war. Es kann sein, dass Eltern Fremden gegenüber ein bestimmtes Bild der Familie zeigen wollen. Aber das genau ist der Punkt: Kinder sind keine Fremden. Sie sind Teil der Familie. Und egal, wie sehr sich Eltern bemühen ein bestimmtes Bild aufrecht zu erhalten, ihre Kinder spüren die Wahrheit dahinter. Kinder sind so verletzlich, weil sie ausnahmslos davon ausgehen, dass sie Schuld sind, oder etwas mit ihnen selbst nicht stimmt, wenn etwas an der Atmosphäre nicht stimmt. Das ändert sich erst ein bisschen, wenn sie in die Pubertät kommen. Übrigens, genauso schnell merken Kinder, wenn ihre alleinerziehende Singlemutter einen „Freund” zum Abendessen einlädt. Sie brauchen keine fünf Minuten, um zu spüren, dass Mama und ihr neuer Freund mehr als „nur gute Freunde” sind.
Viele Eltern erleben ihre Kinder heute im Alltag vor allem am Abendbrottisch. Da kommt es oft zu Konflikten. Eltern nerven die mangelnden Tischmanieren, Kinder fühlen sich gemaßregelt und allen vergeht der Appetit. Wie können Eltern hier vorbeugen?
Die beste Möglichkeit hier vorzubeugen ist, das Kind entscheiden zu lassen, ob es etwas essen möchte oder nicht. Ich schlage vor, schon beim Füttern mit dem Löffel anzufangen. Das Kind mag nicht essen? Jetzt weiß ich aber nicht, ob es daran liegt, dass es nicht hungrig ist oder nicht mag, was auf dem Löffel liegt. Ich sage zu ihm, „Lass es mich wissen, wenn Du essen willst, indem Du Deine Hand ausstreckst. In der Zwischenzeit können Eltern selbst essen, Zeitung lesen, etc. – irgendetwas tun, das die Spannung, Erwartung und den Stress aus der Beziehung nimmt.
Einerseits sollen Kinder mitbestimmen dürfen, was sie essen. Andererseits führt das wiederum zu schwierigen Situationen, wenn sie wochenlang nur Nudeln ohne alles auf dem Teller zulassen. Also doch lieber vorgeben, was gegessen wird?
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen einer generellen Mitbestimmung aller Familienmitglieder – und der Tatsache, dass jedes Familienmitglied in seinen Bedürfnissen ernst genommen wird. Denn das ist meiner Einschätzung nach ein echter “Familienwert”. Ich habe nichts gegen ein Regelwerk, dass das es den Eltern ermöglicht, den Familienalltag zu bestimmen und zu organisieren. Wenn Eltern meinen, dass sie am besten wissen, was gut und gesund für ihre Kinder ist und dass es wichtig für die Familie ist, wenn alle gemeinsam essen, dann ist das in Ordnung. Oder wie meine Mutter immer gesagt hat: „Das hier ist kein Hotel, wo jeder das bestellen kann, worauf er gerade Lust hat“. Aber: Wenn Eltern auf diese Regeln bestehen, dann wird es zu Konflikten und Machtkämpfen kommen. Und es muss Eltern bewusst sein, dass sie dafür die Verantwortung tragen. Wenn Eltern dafür respektiert werden wollen, dass sie konsequent sind, dann müssen sie im absoluten Einklang mit ihren Überzeugungen handeln. Sie müssen diese Regeln leben. Ansonsten ist es der Auftakt zu unnötigen Machtkämpfen mit den Kindern, die sie am Ende nur gewinnen können, wenn sie die persönlichen Grenzen der Kinder verletzen.
Der Familientisch, so schreiben Sie, ist wie eine Lebensschule. Was genau lernen Kinder denn am Tisch fürs Leben?
Sie lernen die Regeln derjenigen zu befolgen, die die Macht haben. Das kann man als eine wertvolle Lebenserfahrung ansehen. Eltern geben weiter, was sie in der Schule, in ihrem eignen Elternhaus und in der Arbeit an Erfahrungen gemacht haben. Familienwerte sollten von Eltern bestimmt und definiert werden, nicht von Familienberatern.
Gemeinsam essen ist Hygge“, schreiben Sie. Kann man „Hygge“ auch lernen?
Es gibt einen Grund, warum die Dänen seit Jahrzehnten behaupten, dass man den Begriff “Hygge” nicht in andere Sprachen übersetzen kann. Hygge muss man selbst erleben. Seit es plötzlich so ein Schlagwort für Philosophie, für Design, für Literatur und vieles mehr geworden ist, muss ich zugeben, dass sie recht haben. Einer der Gründe, warum man Hygge nicht übersetzen kann: es gibt bei uns eine bestimmte Art Konflikte auszutragen, ohne die persönliche, politische, religiöse und moralische Integrität des Anderen zu verletzten. Das deutsche Wort “Gemütlichkeit” kommt der Bedeutung also noch nicht einmal nahe. Ich würde mir niemals eine angemessene Übersetzung zutrauen.
Interview: bw // Cover: BELTZ Weinheim, 2017