Alles außer Tiernahrung….nein, ernsthaft: Ich mag Heu. Aber nicht mittags im Supermarkt.
Liebe B.,
kennst Du diese Minuten, in denen Du zwischen Arbeit und Kindern noch schnell an der Supermarktkasse stehst?
Diese Minuten, in denen eine gelangweilte Kassiererin seelenruhig und mit meditativem Blick die Waren Deiner Vorgänger über den Scanner zieht, während Du noch schnell per Handy ein paar E-Mails Deines Vorgesetzten beantwortest und Dich gleichzeitig fassungslos fragst, warum diese ältere Dame vor Dir unbedingt zur knallvollen Mittagszeit vier Säcke „Getrocknetes Heu mit Löwenzahn für artgerechte Ernährung und authentischen Geschmack“ für ihre Meerschweinchen einkaufen muss?
Ich habe nicht gegen Meerschweinchen. Die sind putzig. Und das Heu ist sicher gesünder, als meine Maultaschen, auch wenn beides in Plastik steckt. Aber ich muss nicht wissen, welches dieser possierlichen Tiere der Dame – sie hat acht, wie ich dank ihrer Auskunftsfreudigkeit erfahre – welchen Wirbel in welcher Farbe an welcher Seite seines kuscheligen Körpers hat.
Die Kassiererin findet das offensichtlich spannend – „weil sie selber auch mal Meerschweinchen hatte“ – denn sie unterbricht gerne ihren Scanvorgang, um sich die Geschichte der Dame ganz genau anzuhören. Und natürlich – der eine „Getrocknetes Heu plus Löwenzahn“-Sack ist ein wenig kaputt und es rieselt raus. Das Heu. Macht nix, da wird ein neuer geholt. Und weil die Kassiererin so nett ist, macht sie das doch glatt für die Dame und hinterher das Band mit fünf Meter Küchenrolle und Sprühreiniger sauber.
Mein Adrenalinspiegel steigt mit jeder verstrichenen Sekunde und jedem Blatt Küchenrolle.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich meine Kinder halb verhungert und durchweicht von einem Regeschauer weinend vor der Haustür stehen. Und niemand öffnet. Sie werden sich Sorgen machen!
Vielleicht denken sie, dass ich sie verlassen habe, nie mehr wieder komme oder tot bin!
Vielleicht wird ihr Urvertrauen für immer zerstört, sie werden die Schule abbrechen, ein Leben lang beziehungsunfähig bleiben, den Kontakt zu mir meiden, einsam auf der Straße leben und unter Brücken schlafen oder sich einer Sekte anschließen, nur weil ich nicht von dieser dämlichen Supermarktkasse weg- und deshalb zu spät nach Hause komme.
Natürlich sagt mein Verstand, dass
erstens, die Sonne scheint,
zweitens, kein Kind so schnell verhungert,
drittens, die Kinder einen Hausschlüssel bei sich tragen und ich
viertens, gerade komplett hysterisch bin.
Irgendwann ist sie um diese gefühlte Ewigkeit des An-der-Kasse-Wartens. Irgendwann ist auch geklärt, ob die Frau Bonuspunkte sammelt, eine Treuekarte nutzt oder die Fußallbildchen für‘s Sammelalbum will.
„Dumme Kuh!“
Möchte ich die Kassiererin für ihre offensichtlich nicht vorhandene Menschenkenntnis und mangelnde Empathie für Mütter in Notsituationen anschreien!
Diese Frau spricht minutenlang über Meerschweinchen!
An einer Supermarktkasse!
Sie kann keine Kinder haben!
Und Meerschweinchen sammeln keine Fußballbilder, weil sie sie mit ihren kleinen Pfötchen ohnehin nicht ins Album kleben könnten!
Aber sie nimmt es doch das Fußballbildchen. Und dann, während ich hektisch meine Einkäufe in die Handtasche quetsche, ist sie natürlich immer noch damit beschäftig, diese vier „Getrocknestes Heu plus Löwenzahn“-Säcke (sie haben Tragegriffe) in zusätzliche und komplette überflüssige Plastiktüten zu verpacken.
Und dabei wendet sie sich zu mir und drückt mir das Fußballbildchen in die Hand. Mit so einem milden, sehsüchtigen Blick.
Dabei sagt sie: „Sie haben doch bestimmt Kinder, die sich darüber freuen, ich habe leider nie Kinder gehabt…“
Und dann passiert es: Ich werde ganz weich, das schlechte Gewissen überrollt mich wie eine Planierraupe. Drückt mich platt hinter der Supermarktkasse. In einem Anfall von Scham für meinen Ich-bin-Mutter-lassen-Sie-mich-durch-Egoismus, stecke ich das Kärtchen unachtsam in die Handtasche und helfe ihr anschließend, die „Getrocknestes Heu plus Löwenzahn“-Säcke in den überflüssigen Plastiktüten zu verstauen. Und dann begleite ich sie natürlich noch zu ihrem Auto und höre mir die ganze Geschichte an, warum sie keine Kinder hat.
Und die Namen der Meerschweinchen und deren Verwandtschafsverhältnis versuche ich mir auch zu merken.
Als ich nach Hause komme, ist es zwar noch nicht dunkel, aber ich bin spät.
Viel zu spät.
Den Kindern ist das egal.
Sie haben ihre Hausaufgaben schon selbständig erledigt (!), die Spülmaschine ausgeräumt, den Tisch gedeckt, mir ein Bild gemalt und gießen gerade in trauter Zweisamkeit die Balkonblumen. (Besser als Feuer).
Und das finde ich alles ganz wunderbar!
Gedanklich schicke ich gerade ein tausendfaches Dankeschön, an die Meerschweinchen-Dame, als mein Sohn das Fußballkärtchen beim Ausräumen der Einkäufe entdeckt.
„Cool, danke!“, sagt er und entschwindet gen Sammelalbum ins Kinderzimmer.
Sofort steht meine Tochter vor mir, ALARMIERT! UND ICH?
Ich versuche zu erklären, dass ich nur eins habe, aber es ist zwecklos. Eine verbaler Nuklearkrieg bricht über mich, die gemeinste aller Mütter und den fiesesten-allerfiesesten aller Brüder, der sowieso immer alles bekommt und SIE niemals, weil sie das/die ärmste, ungeliebteste Kind/Schwester aller Zeiten ist, herein.
Und dann hasse ich sie wieder, diese dämliche Meerschweinchenfrau!
Und Du, liebe B., frage mich bitte nie wieder, ob meine Kinder auch streiten.