Es wird viel über die Auswirkungen von Lockdown und Kita-Schließungen auf die ganz Kleinen berichtet und auch die jungen Erwachsenen kommen zu Wort. Still ist es um die Gruppe der Kinder, die sich am Anfang der Pubertät befinden. Die nicht von Notbetreuung aufgefangen werden, die aber auch noch nicht digital so vernetzt sind, dass sie sich in der Welt zuhause Fühlen, ohne direkte Kontakte. Über die Prognosen für diese Altersgruppe haben wir mit Prof. Dr. Katrin Döveling, Professorin für Kommunikationswissenschaften, Schwerpunkt Medienpsychologie, Mediensoziologie und Emotionsforschung, gesprochen. Karin Döveling erforscht gemeinsam mit Dr. Christian Roth, integrativer Lerntherapeut für Kinder und Jugendliche, in einer interdisziplinären Forschungsgruppe die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche.
Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Döveling, wir sprechen heute über die Auswirkungen der Isolation auf Kinder, genauer, auf die „dazwischen“. Zwischen ganz klein und schon fast erwachsen. können Sie uns etwas für diese Altersgruppe prognostizieren?
Es kann zukünftig zu Schwierigkeiten kommen, vertrauensvolle und stabile Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen. Die Ablösephase dieser Altersgruppe in die Selbstständigkeit aus dem elterlichen Fürsorgesystem wird gehemmt und kann später zur Rebellion führen. Die sozialen und emotionalen Gewinne, die durch Peer-Interaktion und wechselseitigen Austausch erworben werden, fehlen diesen Kindern.
Diese Lücke im Leben in so einer wichtigen Zeit, wie lässt sich die schließen? Wie lassen sich diese Erfahrungen (erstes Mal allein zuhause, erstes Mal verliebt, erstes Mal Mist gebaut usw.) nachholen? Oder überhaupt nicht? Und was heißt das dann für diese Kinder?
Schnell wird sich diese Lücke wohl kaum schließen. Sondern die Altersphase wird sich möglicherweise verschieben und ggf. die Adoleszenzphase verlängern, da wichtige Entwicklungsschritte nachgeholt werden müssen und sollten. Falls es keine Möglichkeit zur Nachholung der Entwicklungsphasen gibt, da schulische Defizite aufgefangen werden müssen, kann es zu Schwierigkeiten in der zukünftigen Gestaltung von stabilen und tragfähigen Beziehungen kommen. (Ich vertraue keinem, ich achte nur auf mein eigenes Wohl etc.)
Was können Eltern und Lehrer dem entgegensetzen?
Das Ohnmachtsgefühl, das ja auch Kinder in diesen Zeiten extrem empfinden, wird diese Generation nachhaltig prägen und in ihrem Handeln, Fühlen und Denken beeinflussen. Hier ist es essentiell, dass Pädagogen und Eltern mit den Kindern „umdenken“, ihnen Möglichkeiten geben zur Emotionsregulation, so dass Ohnmacht im idealen Fall umdefiniert werden kann (ich lerne etwas, es tut mir gut, Zeit zuhause zu verbringen, ich kann Mutter oder Vater helfen, durch kleine Aktionen, gemeinsames Kochen etc).
Für viele Eltern kommt ein eigenes Smartphone für dieses Alter noch nicht in Frage. Das ist sinnvoll, verstärkt aber die Isolation, oder?
Wichtig ist es, den Kindern zu vermitteln, dass sie Kontrolle haben und auch erlernen können, soziale Kontakte über Social Media zu pflegen. Und: dass ihre Eltern genauso wie sie selbst Medienkompetenz erlernen. Also nicht „Medien“ kategorisch verbieten, sondern zusammen den Prozess begleiten. Denn leider zeigt sich oft, dass Eltern nicht wissen, was ihre Kinder im Internet machen. Eltern sollten dies also auch als Chance sehen, umzudenken. Gemeinschaft statt Isolation sollte jetzt wichtig sein, auch in der Mediennutzung.
Studien sprechen schon jetzt von einer „verlorenen Generation“…
Für Kinder besteht tatsächlich die Gefahr, dass die Coronapandemie als verlorener Zeitraum interpretiert wird, der meines Erachtens, insbesondere durch intendiertes Handeln der Eltern, aber auch genutzt werden kann. Auch in diesen Zeiten geht die Sonne auf, der Sommer steht vor der Türe, gibt es Lichtblicke! Diese müssen ins Bewusstsein gerückt werden. Eine Lektion fürs Leben!
Lassen sich diese ungünstigen Entwicklungen wieder rückgängig machen? Und falls ja, wie?
Entwicklungsdefizite sollten durch gezielte Interventionen in der Kinder- und Jugendhilfe, im häuslichen Bereich, oder im schulischen Bereich zu kompensieren versucht werden zu. Eltern können Kindern und Jugendlichen ggf. auch mehr Freiheiten mit Peers nach der Coronapandemie einräumen. Aber schon jetzt kann mehr Freiraum geschaffen werden, damit sich Kinder und Jugendliche wieder in ihren Peers zusammenfinden können. Da sind Medien gerade jetzt sehr wichtig (Spiele über Zoom der Adobe Connect)
Über welchen Zeitraum sprechen wir, wenn es darum geht, dass diese Kinder zu Vertrauen und einer positiven Einstellung zurückfinden?
Nach der Pandemie wird es sicherlich eine Zeit des Nachholens sozialer Interaktionen geben. Dies ist aber sehr individuell und kann pauschal nicht festgelegt werden.
Kann es sein, dass Kinder den Kontakt zu anderen Kindern nach Corona wieder ganz neu lernen müssen?
Es kommt sicherlich darauf an, wie stabil und tragfähig das Beziehungsgefüge mit anderen Gleichaltrigen und mit Gruppen war. Bis sich wieder ein Gefühl der sozialen Normalität einstellt, bedarf es sicherlich einer geraumen Zeit, die vielleicht auch durch missverständliche Interaktionsprozesse gezeichnet sein wird.
Kommen Eltern in den Medien zu Wort, so machen sich die meisten vor allem um die mangelhafte Bildung ihrer Kinder Sorgen oder natürlich um die physische Gesundheit und die Gefahr einer Ansteckung. Kann es sein, dass sich die emotionalen Folgen der Isolation erst viel später bemerkbar machen werden?
Sicherlich aufgrund der erfahrenen Deprivationen im sozialen Bereich, wird es auch eine Zeit der Gewöhnung an das soziale Miteinander geben, die auch zu emotionalen Anpassungsprozessen führt. Wenn die Gefühle mit anderen selten oder gar nicht ausgetauscht werden konnten, besteht die Gefahr einer emotionalen Isolation, eines weiteren Rückzugs, der dann, wenn es wieder zu sozialen Kontakten kommt, auch zu affektiven Ausbrüchen führen kann. Dies ist eine Seite. Die andere ist, dass die aktuelle Situation auch dazu führt, dass anders gelernt wird. Man lernt zu lernen, in der Schule, im Miteinander, das ist nun auch beeinträchtigt.
Obgleich zurzeit schon so viel auf den Schultern der Eltern lastet, fragen wir trotzdem: Was können Eltern für ihre Kinder leisten, um es ihnen leichter zu machen?
Emotionales Verständnis entgegenbringen und versuchen die sozialen Kontakte durch innerfamiliäre Austauschprozesse und gemeinsame Aktivitäten im Freien, in der Natur, zu kompensieren. Den familiären Zusammenhalt stärken und positive Zukunftsaussichten vermitteln. Das Gefühl vermitteln, dass diese Zeit auch Vorteile mit sich bringt, auch für die Gestaltung von Beziehungen, und nicht als verlorene Lebenszeit gesehen wird.
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