Dr. Gatinho, Sprache ist eine Schlüsselfähigkeit für uns Menschen. Wie die Sprachentwicklung von Kindern zu fördern ist, was sie stört, welche Einschränkungen und Besonderheiten es gibt, das alles sind Themen, die lange Regalreihen an Ratgebern füllen. Aus Ihrer Erfahrungen als Kinderarzt: Machen Eltern zu großen Aufhebens darum, was ihr Kind wann spricht?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche Eltern sind sehr verunsichert, oft auch deshalb, weil sie zu viele Informationsquellen haben und gar nicht richtig einordnen könne, wo ihr Kind steht. Auf der anderen Seite gibt es die Eltern, die sehr entspannt sind. Es ist eine bunte Mischung. Das erlebe ich auch in der Praxis. Manchmal ist man ganz überrascht, dass ein Problem nicht auffällt, andere hingegen sind vorsichtig und klären es ab.
Schauen wir mal auf ein gesundes Kind. Wann fängt es mit ersten Lautäußerungen an?
Die frühkindliche Form der Kommunikation ist ja das Schreien. Das machen, wie wir alle wissen, Babys gleich wenn sie auf die Welt kommen. Zudem grummeln und knorzen sie, machen also außer dem Schreien verschiedene Geräusche.
Was kommt danach?
Ab dem dritten bis zum fünften Monat fangen Kinder häufig an zu lallen. Sie gurgeln, brummen und machen für uns komisch klingende Geräusche. So zieht sich das dann fort bis etwa zum ersten Geburtstag, bis die ersten Wörter zu vernehmen sind. Da ist die Bandbreite aber sehr groß. Manche Kinder sagen bereits mit zehn Monaten Mama, andere aber erst mit anderthalb Jahren.
Dieses Gebrabbel verzückt Eltern und stachelt an zum Interpretationsmarathon. Wie können Eltern den Nachwuchs in einem gesunden Maß stützen und stärken bei der Sprachentwicklung?
Letztendlich ist es, dass man einfach mit dem Kind spricht. Und das mit der ganz normalen Sprache und nicht mit einem Kukikuki oder Lalalala. Wichtig dabei ist, und das zeigen auch Studien, dass Eltern dabei nicht zu monoton sprechen. Am Anfang ist die Sprachmelodie sehr ausschlaggebend. Ich motiviere Eltern immer dazu, ihre ganz normale Sprache zu benutzen und diese sehr zu betonen. Wenn etwas toll oder super ist, sollte die Stimme angehoben werden. Dabei merken Kinder, dass es eine Sprachmelodie gibt. Und die ist am Anfang sehr wichtig, damit Sprache sich entwickeln kann.
Lernen dabei Kinder auch, dass sich freudige und traurige Dinge in der Stimmlage unterscheiden?
Genau, dabei erfahren Kinder auch, dass Emotionen eine Rolle spielen. Und wenn Kinder Wörter mit Situationen verknüpfen, ist das für sie einfacher zu merken.
Eltern neigen zu Vergleichen. Was sagen sie Vätern und Müttern, die wegen der vermeintlich eloquenteren Sprachentwicklung der Kinder anderer Rat suchen?
Es ist in der Natur der Eltern, dass sie vergleichen. Selbst wenn Väter und Mütter sich vornehmen, keine Verglei
che anzustellen, spätestens wenn sie beispielsweise irgendwo bei Kaffee und Kuchen sind, wo es auch andere Kinder gibt, vergleichen sie automatisch. Wenn jedoch die Unterschiede groß sind, würde ich das mit dem Kinderarzt oder der Kinderärztin besprechen. Wenn Eltern deswegen zu mir kommen, schaue ich, wie die Entwicklung des Kindes ist und zeige auch, wie groß die Bandbreite in der Sprachentwicklung ist. Es gibt Kinder, die können mit zweieinhalb Jahren schon fließend sprechen. Wenn ich ein solches Kind im Bekanntenkreis habe, dann wirkt mein Zweijähriger vielleicht deutlich zurück, ist aber eigentlich noch komplett in der Norm.
Manche Eltern stellen sprachliche und körperliche Entwicklung gegenüber. Was halten Sie davon?
Ich kenne solche Äußerungen wie „der kann sich ja toll bewegen, da muss er mit zwei oder drei Jahren noch nicht sprechen können“. Solche Mythen nach dem Motto „Motorisch super, Sprache schlecht“ gehen einfach nicht. Für alle gelten die gleichen Meilensteine der Entwicklung, egal ob sie super im Klettern sind oder nicht.
Wie sehr hängt die Sprachentwicklung eine Kindes von den Menschen ab, die es in den ersten Lebensjahren umgeben, sprich, von dem, was das Kind hört?
Das hängt massiv zusammen, denn Sprache ist Lernen am Modell. Und das Lernen beginnt bereits im Mutterleib, wie einschlägige Studien belegt haben. Wenn Kinder im Mutterleib eine Umgebungssprache erleben, werden Gehör und Gehirn des Kinders bereits in der Schwangerschaft geprägt. Wenn das Kind auf die Welt kommt, lernt es einfacher Deutsch, weil es bereits im Mutterleib darauf geprägt wurde. Wenn ich als Mutter jetzt gerade in Deutschland bin, danach aber mein Leben lang in England sein werde, lässt sich das Kind auf diese Sprache prägen, wenn englisch gesprochen oder englischsprachige Musik gehört wird. Es fängt also im Mutterleib an, hängt aber danach massiv davon ab, wie sprachgefördert das Kind in seiner Umgebung wird. Das Kind bekommt mit, wie mit ihm geredet wird. Wenn ich mit meinem Kind in den ersten Jahren nie spreche, ist die Sprachentwicklung wahrscheinlich eher gestört.
Lässt sich das Sprechen mit dem Kind auch delegieren beispielsweise an elektronische Medien?
Es gibt Studien, die ganz klar zeigen: Input für das Kind kommt durch einen Menschen, nicht durch einen Bildschirm. Eltern sind manchmal ganz stolz, dass ihre Kinder mit zwei Jahren schon one, two, three sagen können. Dabei haben die Kinder mit ihrer Muttersprache ein Problem. Ich sage dann nur: Hui, dieses Kind war aber lange vor YouTube und hat viele Videos gesehen. Das hat mit Sprache nichts zu tun, das ist einfach nur doofes Nachbrabbeln. Sprache braucht Beziehung.
Das vollständige Interview findet ihr in der aktuellen Ausgabe des StadtLandKind Magazins oder im aktuellen ePaper.
Den Instagram Kanal von Vitor Gatinho findet ihr hier.
Dr. med Vitor Gatinho
ist dreifacher Familienvater und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Frankfurt am Main. Weil er Eltern auch außerhalb seiner Praxistätigkeit Hilfe und Unterstützung in allen Fragen zur Kindergesundheit geben wollte, startete der Sohn portugiesischer Eltern den Kanal „Kids.Doc“ auf Instagram. Die pfiffige Idee entwickelte sich zum beliebten Account, inzwischen zählt er mehr als 650 000 Follower. Ein weiteres Format, mit dem Gatinho Eltern und Kinder informiert, ist der Podcast „Der Kids.Doc“. In mehr als 110 Folgen geht es um Elternmythen ebenso wie um wählerische Esser oder Kindesmisshandlung. Vor zwei Jahren gewann der Podcast die Kategorie „Publikumspreis Wissen“, weil er offen, direkt und ohne Medizinervokabular, dafür mit einer guten Portion Humor und viel Herz sich der Fragen rund um die Gesundheit von Babys und Kindern annimmt. Ein Themenspektrum, dem Gatinho sich auch in seinen Büchern widmet. Vor zwei Jahren ist „Wenn der Rotz läuft und der Pups drückt“ bei GU erschienen.
In diesem Jahr ist das zweite Buch erschienen. „Wenn die Laus juckt und der Zahn wackelt“ widmet sich der Medizin von und für Kinder im Alter zwischen vier und zwölf Jahren. Themen sind Ernährung, Wachstum, psychische Belastungen und Prävention von Missbrauch. Zudem gibt es Wissenswertes zu Kinderkrankheiten sowie zur Entwicklung bis zur Pubertät.