Der erste Schultag, das erste Schuljahr, ist für Kinder ein großer Schritt und für Familien ein großer Einschnitt. Es beginnt etwas Neues. Die Kinder – eben noch so klein – sind plötzlich schon richtig große Schulkinder. Vielen Kindern fällt es nicht leicht, sich umzustellen und anzupassen. Vor allem das viele und lange Stillsitzen … Speziell Jungen scheinen sich in den ersten Schuljahren schwer zutun. Ihr verständliches Bewegungsbedürfnis, ihre Aktivität hört ja nicht plötzlich mit Schuleintritt auf. Dass Bewegung und Lernen zusammengehört, das akzeptieren auch immer mehr Schulen und versuchen ihren Unterricht entsprechend zu gestalten. Trotzdem haben es Jungen offensichtlich schwerer als Mädchen. „Bildungsverlierer“, „ADHS“, „Schulabbrecher“ … fallen diese Begriffe, denkt man sofort an Jungen. Reinhard Winter, einer der profiliertesten Jungenexperten im deutschsprachigen Raum, Diplompädagoge und in der Leitung des Sozialwissenschaftlichen Instituts Tübingen hat jetzt einen Ratgeber für Eltern veröffentlicht. „Wie Jungen Schule schaffen“. Wir haben uns mit ihm unterhalten.
Sehr geehrter Herr Winter, Ihr Ratgeber „Wie Jungen Schule schaffen“ könnte doch eigentlich auch heißen: „Wie Eltern Schule schaffen“. Oder?
Reinhard Winter: Nein, nicht ganz. Ich finde es eher kritisch, wenn Eltern sich zu stark einmischen, dem Sohn das Bioreferat schreiben und beleidigt sind, wenn der Bub nur eine Drei im Vokabeltest bekommt, obwohl sie mit ihm dafür geübt haben. Also, da geht’s schon um klare Verhältnisse. Der Junge schafft die Schule. Mit dem Titel ist also etwas anderes gemeint, er hätte vielleicht heißen können: „Was braucht der Sohn von den Eltern, damit er die Schule gut schaffen kann.“ Und ein wenig auch, wie können Eltern es aushalten, dass ihr Sohn eben auch Schüler ist und wie er das macht.
Der Ratgeber liest sich spannend, er ist voller wertvoller Tipps für Eltern. Aber er macht uns auch Angst. Liegt es wirklich einzig und allein an den Eltern, ob Jungen die Schule erfolgreich durchlaufen – und überhaupt nicht an den pädagogischen und fachlichen Fähigkeiten der Lehrer?
Echt, Angst? Das tut mir leid, das soll nicht sein. Der Beitrag der Eltern ist gewiss nicht der einzige Faktor fürs Gelingen. Eltern sollten sich ihrer Verantwortung bewusst werden und wissen, wo sie gefragt sind. Und ja, sie können tatsächlich einiges dazu beitragen, dass der Junge die Schule gut schafft. Aber es kommt immer auch auf den Jungen selbst an, auf sein Temperament, seinen Charakter, was er selbst ist und was er will, ein klein wenig auch auf seine Intelligenz, aber wichtiger ist seine Arbeitshaltung. Und natürlich sind auch die Lehrkräfte, die Schule gefragt, da läuft auch nicht alles rund und könnte besser gemacht werden. Deshalb habe ich für die Lehrkräfte ein eigenes Buch geschrieben.
Ist es nicht merkwürdig, dass auch nach den 20 Jahren, in denen Jungen als Bildungsverlierer betitelt werden, in bundesdeutschen Schulen immer noch die gleichen Zustände herrschen? Nämlich exakt dieselben, die Jungen zu Verlierern machen?
Ja, das ist schon ärgerlich. Es liegt wohl daran, dass lange nur lamentiert und dramatisiert oder auch abgewiegelt wurde. Ein amerikanischer Schulforscher hat einmal gesagt, „Schulen verändern sich langsamer als Kirchen“, und da ist was dran. Mittlerweile erlebe ich es aber häufig, dass Lehrerinnen und Lehrer die Schieflage erkennen und sich ähnlich stark für Jungen engagieren, wie sie es für Mädchen tun. In der Bildungspolitik, der Schulverwaltung
und auch in der Ausbildung von Lehrkräften an Hochschulen tut sich dagegen noch wenig, das sind eben ganz träge Strukturen.
Kann es sein, dass die Kombination aus „Jungen“ und „Schule“ im öffentlichen Bewusstsein so eine große und komplizierte Rolle spielt, seit es verboten ist, Jungen durch körperliche Züchtigung an ihrer Unruhe und Bewegung zu hindern?
Oh, nein, auf keinen Fall! Gewalt war für die Erziehung noch nie förderlich, sie ist ein eigenes Problem und macht Jungen unterwürfig, aggressiv oder rebellisch. Es ist eher so, dass da zeitlich etwas zusammenfällt. Das Erziehungsverständnis und die Geschlechterverhältnisse haben sich verändert. Damit wurde es erlaubt, auch Jungen in den Blick zu bekommen. Und es fällt seither auf, dass eben auch Jungen oder Männer reichlich Probleme haben und bedürftig sind. In traditionellen Bildern von Männlichkeit ist das nicht vorgesehen.
In Zeiten, in denen große Teile der Gesellschaft eine geschlechterneutrale Erziehung fordern, fordern Sie, dass Schule das Männliche bei Jungen wieder stärker bildet. Was genau ist dieses Männliche? Und muss es wirklich in der Abgrenzung zu Mädchen herausgebildet werden?
Ich wünsche sicher nicht ein Zurück zum traditionellen Mann. Das haben wir zum Glück überwunden. Das Männliche gibt es so schlicht ja gar nicht, jedenfalls nicht als etwas fixiertes und enges. Das zeigt sich schon daran, dass die Vielfalt unter Jungen und Männern sehr breit ist. Aber es gibt auf der anderen Seite Tendenzen in den Bedürfnissen und im Verhalten von Jungen. Bewegungsimpulse, das Interesse an ihrer Position, die Art, wie sie oft kommunizieren, Handlungsinteressen, experimentelles Lernen, der Wunsch nach Klarheit – solche Dinge sind bei vielen Jungen stärker besetzt. Und auf solche Bedürfnisse wird zu wenig eingegangen, das ist ein Teil des Problems. Es geht dabei gerade nicht darum, dass Jungen ihr Männliches in Abgrenzung entwickeln, sondern mehr aus sich heraus. Ziel ist eher dass Jungen erkennen und erfahren, wie sie selbst männlich sind, also nicht als Negativabzug zum Weiblichsein der Mädchen. Und auch dafür brauchen Jungen Unterstützung, die sie in der Schule meistens nicht bekommen. Ich nenne das Männlichkeitsbildung.
„Scheitern ist Jungen noch weniger erlaubt als Mädchen.“
Weniger Mutter ist manchmal mehr,“ heißt ein Kapitel. In der Realität ist es aber doch leider Alltag, dass sich hauptsächlich die Mütter um die Erziehung und die schulischen Belange der Kinder kümmern. Was ist daran schlecht für Jungen?
Mütter sind nicht grundsätzlich schlecht für Jungen, sondern wichtig und hilfreich, auch für den schulischen Erfolg. Was für Jungen in ihrem Schülersein aber ebenso wichtig ist, sind die Väter, mit ihrer Haltung und ihrem Engagement in der Schule. Sie prägen das Image mit, das Jungen von der Schule haben. Wenn der Papa sich nach den Hausaufgaben erkundigt oder zum Elternabend geht, signalisiert er: Schule ist wichtig. Das macht es dem Sohn leichter. Was die Entwicklung der Jungen stört ist, wenn die Mütter überfürsorglich sind, wenn sie die Jungen übermuttern. Das machen sicher nicht alle, aber es gibt die Tendenz. Das fällt auf, weil das Phänomen viel mehr bei Müttern und Söhnen vorkommt, in den anderen Konstellationen aber nicht. Manche Mütter agieren zum Beispiel so, damit sie eine gute Mutter sind, anderen fällt es schwer, gerade den Sohn größer werden zu lassen. Und diese Seite des Mütterlichen kann beim Jungen zum Problem werden.
“Scheitern gehört zum Leben dazu“, schreiben Sie. Und stellen fest: „Scheitern ist Jungen noch weniger erlaubt als Mädchen.“ Machen wir Eltern wirklich so viel Druck?
Ja, schon. Die Leistungserwartungen haben insgesamt zugenommen. Dazu kommt das Gerede vom Jungen als Bildungsverlierer, das Eltern Angst macht und die sie in Druck umsetzen. Und schließlich lauern im Hintergrund noch Männlichkeitsbilder, die wirken subtil als Erwartungen: ein Mann muss Karriere machen, ein Mann muss führen, ein Mann muss eine Familie ernähren können. Weil Eltern ihre Verantwortung spüren, setzen sie solche Erwartungen in Druck um, unbewusst natürlich, aber dennoch wirksam. Jedes kleine Scheitern, jede Drei in der Mathearbeit oder jedes Nachsitzen irritiert solche Eltern. Viele erhöhen dann ihre Aktivität und versuchen, das Versagen des Jungen zu verhindern. Damit nehmen sie ihm aber ein Stück seiner eigenen Verantwortung weg.
Manche Jungen lernen gerade dadurch, dass sie scheitern. Sie kommen durch ihr Versagen erst zu ihrer Größe – das ist ein männliches Muster, das wir aus Heldengeschichten kennen. Es geht sicher nicht darum, Jungen allein zu lassen, sie reinzulegen oder bewusst gegen die Wand fahren zu lassen. Aber die Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist für ihre Entwicklung eben auch wichtig: Wenn ich was mache oder wenn ich nichts mache, dann hat das Auswirkungen.
Sind die Tipps zum „Einschleimen“ („nicken, wenn der Lehrer einen anschaut, Mitarbeit vortäuschen etc.“) wirklich ernst gemeint?
Ja sicher, aber schon auch mit ein wenig Augenzwinkern. Es geht dabei jedoch nicht um Unterwürfigkeit, sondern ums Impression-Management. Das sind Techniken, die einen positiven Eindruck bei Lehrkräften machen, ein bisschen Bluff, wie beim Pokern. Mädchen beherrschen das oft viel besser und sie profitieren dadurch. Hinter der negativen Bewertung dieser Technik bei Jungen steckt eine Geschlechterfalle. Mit demselben Verhalten gelten Mädchen als nett und kooperativ, aber Jungen schleimen sich ein. Da lässt sich die Erwartung heraushören, Jungen müssten aufmüpfig, rebellisch oder wenigstens cool und distanziert sein, sonst sind sie nicht richtig männlich. Auf dieser Schiene der Erwartungen beeinflussen sich die Jungen gegenseitig kräftig. Deshalb brauchen
sie ein Gegengewicht, und dazu gehört die Information zum Impression-Management.
Aber machen wir uns nichts vor, natürlich sind solche Techniken kein Wundermittel, allenfalls kleine Bausteine, die leichter in die Aufwärtsspirale des Schulerfolgs führen können.
Interview: bw // Fotos: istock, BELTZ