Der Woogbach rauscht. Er sprudelt energisch und fließt eifrig unter der alten Mühle hindurch. Gelb und rot gefärbtes Laub lässt sich ohne Hektik auf dem Wasser nieder, bedeckt ein verwaistes Trampolin, einen gepflasterten Weg, eine Terrasse aus Holz. Es ist ein herbstlicher Morgen in der Pfalz. Aus dem Nebel erhebt sich gelassen ein aus Holz und Glas konzipiertes Gebäude. Niemand ist zu sehen. Es ist ruhig. Neben der Terrasse hängt eine Tafel. Mit Kreide darauf geschrieben: „Heute gibt es Köstlichkeiten aus der Küche“. Wir sind zu Besuch in Dudenhofen. Im Hospiz Sterntaler. Ein Ort für lebensbegrenzend kranke Kinder und ihre Familien. Aber es ist kein Sterbehospiz. Das mussten wir heute als Erstes lernen. Gestorben wird hier zwar auch. Aber vor allem wird hier gelebt, sich erholt, neue Kraft geschöpft. Das wird uns gleich bei einem der ersten Telefonate von Linnford Nnoli klargemacht. Er leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei den Sterntalern.
Die ehemalige Mühle in Dudenhofen ist eine „kleine Oase im Grünen“, ein Ort der Ruhe und der Kraft, den die Familien mit ihren kranken Kindern immer wieder aufsuchen können, um für den oft jahrelangen Weg der Pflege und Begleitung gestärkt zu sein.
Bundesweit gibt es 40.000 multipel und schwersterkrankte Kinder. An Krebs erkrankte Säuglinge. Kleinkinder mit Gehirntumoren. Krabbelkinder mit genetischen Defekten. Kinder, die nie laufen, essen, sprechen oder lachen werden. Die als pubertierende Teenager gewickelt, beatmet und gefüttert werden müssen. Und die doch trotz allem Spaß am Leben haben. Die – bis es wirklich gar nicht mehr geht – mit ihren Rollstühlen über den Hof flitzen. Die Witze machen und sich über Witze schlapplachen können. Die genauso geliebt werden wie gesunde Kinder.
„Hier können wir jetzt nicht hoch.“ Wir stehen am unteren Ende einer breiten Holztreppe. Oben huscht etwas Zartes, Blondes in einem pinken Prinzessinnenkostüm vorbei. Da oben ist der „Geschwisterbereich“. Wenn das Kind einer Familie schwer erkrankt, leiden auch die Geschwister. Sie kommen immer an zweiter Stelle, egal wie Eltern sich um sie bemühen. Die Eltern sind in ihrer Sorge und Gedanken auf das kranke Kind fixiert – oft sogar über dessen Tod hinaus. Deshalb stehen bei den Sterntalern, wann immer es geht, auch die Geschwister im Mittelpunkt. Sie spielen hier auch mal die Hauptrolle. Sie haben nicht nur eine komplette Ebene für sich mit Spiel- und Bastelbereichen, mit Musikinstrumenten und für die Großen mit Computer und Playstation, sie werden von allen Seiten verwöhnt und aufmerksam durch den Tag begleitet. Und: sie können auch mal etwas mit ihren Eltern allein unternehmen. Denn ihre kranken Geschwister sind bei den Sterntalern bestens versorgt.
Emily hat endlich den zum Kostüm passenden Zauberstab gefunden. Schüchtern huscht sie hinter eine Säule, als wir – begleitet von einem verantwortlichen Pädagogen – ihren Bereich besichtigen dürfen. Emily ist für die Herbstferien mit ihrer großen Stiefschwester Laura hier. Laura ist 17 Jahre alt. Wie lange sie noch leben wird, weiß niemand. Gerade hat die Mutter die neue niederschmetternde Prognose von ihrer Ärztin erhalten. Zu allen anderen gesundheitlichen Problemen wurde bei Laura nun auch noch ein massives Knochenwachstum im Gehirn festgestellt. Niemand weiß warum und woher es kommt. Man könnte den Schädel komplett öffnen und den Knochen wegfräsen – das würde Laura vermutlich nicht überleben. „Ich hoffe einfach ganz stark, dass der Knochen aufhört zu wachsen“, erklärt Lauras Mutter Tanja.„Mit 17 hört man doch bald auf zu wachsen und dann stoppt es vielleicht auch das Wachstum im Gehirn“. Und wenn nicht? „Dann machen wir uns jetzt noch eine richtig schöne Zeit“.
Das klingt so einfach. Wie schwer die Entscheidung war, kann man nur ahnen. Vor allem, da der Knochen, den Tanja laut ihrer Ärztin wie einen irreparablen Tumor betrachten solle, das Mädchen wahrscheinlich bald taub werden lässt. Als Nächstes werde dann die Atmung wegfallen. Laura kam in der 26. Schwangerschaftswoche mit 500 Gramm zur Welt. Mit offenem Kopf, Gehirnblutungen, einem schweren Virus. Die Gehirnflüssigkeit konnte nicht abfließen. Eine Zyste hat das Kleinhirn inzwischen fast komplett verdrängt. Tanja litt an einer schweren Schwangerschaftsvergiftung. Heute weiß man, dass sie an dem so genannten Hellp-Syndrom litt. Laura konnte nie etwas selbständig machen. Ob sie etwas sehen kann, weiß ihre Mutter nicht, aber hören, das kann sie! Und deshalb wäre die drohende Taubheit auch so schlimm. „Dass so schwer kranke Kinder nichts vom Leben haben, stimmt einfach nicht!“. Tanja weiß, wie manche Nachbarn hinter ihrem Rücken reden. Seit ihrer Geburt kümmert sich die 37-Jährige Tag und Nacht um Laura. Seit vier Jahren kommen die beiden – mal zu zweit, mal zu viert mit Stiefvater und Schwester zu den Sterntalern. Aufatmen. Kraft schöpfen. Damit es dann wieder weitergehen kann. Bei schwer kranken Kindern kann jede Erkältung schnell zur Lungenentzündung werden und tödlich enden, jedes Unwohlsein kann auch ein Nierenversagen bedeuten. „Wenn wir hier ankommen, dann ist es für mich wie Urlaub. „Wir fühlen uns hier zuhause“, erzählt Tanja. „Alles hier ist wie ein Traum. Laura wird professionell versorgt, ich muss mich um nichts kümmern. Ich muss nicht einkaufen, nicht putzen, nicht kochen. Ich kann durchatmen. Ich bin einfach dankbar, dass es einen solchen Ort wie die Sterntaler gibt.“
Finanziert wird das „Kinderhospiz Sterntaler“ komplett durch Spenden. Nur das kranke Kind bekommt pro Tag einen Zuschuss von der Krankenkasse. Der ist aber nicht mal kostendeckend.
Früher stand hier mal eine alte Mühle. Mit einer kleinen verfallenen Scheune und einer großen, ebenso verfallenen Scheune. Später beherbergte das Gebäude eine Gaststätte mit Hotel. Und seit 2009 sind die Sterntaler hier zuhause. Die Scheunen wurden saniert und renoviert und zu hellen Anbauten umgestaltet. Drei Pflegeplätze gab es hier bisher. Jetzt endlich wurde der große Neubau mit vorgesehenem Therapiebad und Salzgrotte fertig und hier wird es nach der Abnahme 12 Pflegeplätze für unheilbar kranke Kinder geben. Der Neubau wurde nach neusten medizinischen Standards konzipiert. Alle vier Stunden wird die Luft in jedem Raum komplett ausgetauscht. Das ist speziell für die beatmeten Kinder eine große Erleichterung. Es gibt Lichtelemente, die je nach Stimmung die Räume in ein weiches blaues, rotes oder grünes Licht tauchen. Im Erdgeschoss befindet sich das „Abschiedszimmer“. Bodentiefe Fenster gehen auf den Innenhof
hinaus. Ein kleiner Steinengel betet auf einem Bord. Hier können die Familien Abschied nehmen. „In aller Ruhe“, erklärt Linnford Nnoli „Das Zimmer kann so weit gekühlt werden, dass das Kind so lange bleiben kann, wie die Familie Zeit braucht, um Abschied zu nehmen“. Still und weiß wartet das Zimmer auf seine kleinen Gäste. Hoffentlich wird es noch lange nicht gebraucht, denken wir beim Hochsteigen durch das stille und helle Treppenhaus.
Die Pflegezimmer werden von ungewöhnlichen Betten dominiert. Aus fein duftenden, geölten Hölzern wurden hohe Gitterbetten gebaut. Die aber nach vorne durch Türen aus Plexiglas begrenzt werden. So können die Kinder im Liegen nach draußen schauen, ohne dass ihre Welt durch Gitterstäbe begrenzt wird. „Die Kinder hier zu haben und zu wissen, dass sie leiden und sterben werden ist natürlich traurig“, sagt Nnoli. „Aber es gibt auch echte Kämpfer. Die trotz schlechter Prognosen immer nur das Positive sehen. Die sich jeden Zipfel Leben erkämpfen. Die Kinder sind vorbildlich in allem, was sie tun. Und ihre Tapferkeit lässt uns jeden Tag aufs Neue demütig werden.“
Bettina Wolf // Fotos: Simon Hofmann
Mehr unter: kinderhospiz-sterntaler.de