Liebe Frau Dr. Ballmann, alle Eltern wollen ihre Kinder bestmöglich fördern. Sie haben mit „Das Faultier-Prinzip“ nun einen Eltern-Ratgeber geschrieben, in dem es um Gelassenheit, Vertrauen und Zurückhaltung geht. Trauen Eltern ihren Kindern nicht genug zu?
Ich gehe von Eltern aus, die das Beste für ihre Kinder wollen. Diese Eltern behüten und beschützten ihre Kinder, weil sie es gut meinen und das ist gut so. Dabei nehmen sie ihnen allerdings zu oft zu viel ab, trauen und muten ihnen zu wenig zu, das ist schade, denn Kinder entwickeln Selbstwert und Selbstvertrauen durch Selbstwirksamkeitserfahrungen und dafür müssen sie wirksam sein. Sie müssen alle möglichen Erfahrungen machen und ja, sie müssen auch lernen zu scheitern und nach dem Hinfallen wieder aufzustehen. Weil Kinder viel und schnell lernen, lernen sie auch hilflos zu werden und sich immer auf andere zu verlassen – das wollen Eltern sicher nicht, deshalb plädiere ich dafür, Kinder entwicklungsangemessen am Leben teilhaben zu lassen und ihnen Hilfestellung zu geben, wann immer sie sich Hilfe wünschen.
Sind Eltern zu sehr an Leistung orientiert?
Leistungsorientierung ist vollkommen okay, solange sie Kinder nicht krank macht. Es ist okay, sich anzustrengen, um etwas zu erreichen, denn es macht Menschen zufrieden, erfolgreich zu sein. Dabei sollten wir Erfolg differenzieren und definieren – ich meine damit nicht in erster Linie Schulerfolg, sondern das, was individuell bedeutsam für ein Kind ist. Wenn Eltern Leistung wichtiger als Wohlbefinden ist oder gar davon entkoppelt wird, wenn Noten zum Maßstab für ein gelingendes Leben werden, dann wird der Leistungsgedanke gefährlich, denn dann werden Kinder nicht um ihrer Selbstwillen geliebt.
Ein Kritikpunkt: Kinder werden viel zu früh bewertet und beurteilt. In Kita, beim Kinderarzt, in der Schule … Aber gibt es Eltern nicht auch Sicherheit, wenn sie wissen, ihr Kind kann annähernd das, was die anderen Kinder können und entwickelt sich altersentsprechend?
Ich stimme Ihnen zu, wenn es um „annähernd“ geht. Entwicklungstabellen sind wichtig, sie sind aber nur ein grober Anhaltspunkt. Kinder entwickeln sich individuell und man sollte ihnen die Zeit geben, die sie brauchen. Sie kennen sicher den Spruch „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“. Es gibt Kinder, die laufen mit neun Monaten. Und es gibt Kinder, die laufen erst mit zwei Jahren. Es gibt Kinder, die sprechen mit einem Jahr und es gibt Kinder, die sprechen erst mit zwei Jahren, die sogenannten Late Talker. Natürlich gibt es auch ein “zu spät erkannt” und es ist gut Entwicklung zu beobachten, aber bitte mit mehr Gelassenheit, als das derzeit geschieht. Ein Beispiel: Wenn ein Kind mit zwei Jahren weniger als 50 Wörter spricht, würde ich wachsam sein und das checken lassen, – aber eben erst dann. Ich glaube, dass viele Eltern einfach Sorge haben, dass sie etwas verpassen bei ihren Kindern. Dass sie ihnen schaden, wenn sie ihnen nicht in allen Bereichen das Optimum ermöglichen. Es gibt aber kein objektives Optimum, es gibt nur individuelle Entwicklung. Zum Beispiel sind Noten definitiv nicht dafür geeignet, Entwicklung zu vergleichen. Noten messen keine Fähigkeiten und keine Fertigkeiten, sie messen nur das, was man an einem Zeitpunkt x abrufen kann und sind daher ein sehr ungenaues Messinstrument.
Eltern von heute haben alle das Schulsystem durchlaufen, das Sie kritisieren. Wie können wir diese Erfahrungen abschütteln und nicht auf unsere Kinder übertragen?
Unser Schulsystem hat auch seine guten Seiten, denn es ist durchlässig und man kann jeden Schulabschluss in jedem Alter machen, das werden einige Eltern erlebt haben. Sicher haben auch einige Eltern weniger gute Erfahrungen gemacht und gerade dann ist es doch wünschenswert, wenn man seine Kinder vor Demütigungen und wachsender Prüfungsangst schützt. Erfahrungen abschütteln funktioniert nicht. Zielführend ist sich nicht nur mit der Zukunft, sondern auch mit dem Hier und Jetzt zu beschäftigen und sich mal zu überlegen, warum es oft nur darum geht, die Schule hinter sich zu bringen und warum das so ist?
Eltern wollen ihren Kindern einen optimalen Start ins Leben dank bestmöglicher Bildung ermöglichen. Dafür nehmen sie viel in Kauf, bezahlen Nachhilfe und Lernangebote. Ist das schon Überforderung? Kein Kind sitzt gerne in einer Klasse mit dem Gefühl, nicht zu verstehen, wovon die Lehrenden sprechen.
Bestmögliche Bildung hat nicht zwingend etwas mit guten Noten zu tun. Ich denke sogar, das Gegenteil kann der Fall sein. Schulische Ausbildung kann echte Bildung sogar verhindern. Was bringt all das Wissen, wenn Herzensbildung, Fantasie und die Kreativität dabei auf der Strecke bleiben. Wenn man Bildung als etwas Ganzheitliches betrachtet, erübrigt sich auch die Frage nach Nachhilfe, dann darf Verstehen dauern. Ich denke, Eltern legen den Fokus auf Ausbildung und das halte ich für falsch, denn daraus resultiert auch die Nachhilfeexplosion. Nachhilfe ist, wenn es darum geht, Kindern gelegentlich etwas noch einmal zu erklären oder sie beim Üben anzuleiten, okay. Wenn Kinder in der Klasse sitzen und nichts verstehen, müsste man viel mehr darüber nachdenken, woran das liegen könnte und dem Kind nicht durch jahrelange Dauernachhilfe eine Art zweite Schule zuzumuten.
Wie können Eltern erkennen, dass es zu viel für ihr Kind wird? Kinder wollen ja die Vorstellungen ihrer Eltern erfüllen …
Kinder und oft auch noch Jugendliche sprechen durch ihr Verhalten. Immer dann, wenn Kinder ihr Verhalten ändern und/oder durch körperliche Schmerzen Unwohlsein signalisieren, ist etwas nicht in Ordnung. Manche Kinder haben Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder fangen sich jede Erkältung ein. Manche werden stiller und ziehen sich zurück, andere zeigen Aggressionen und sind zunehmend ungeduldig. Wenn Eltern ihre Kinder gut beobachten, werden sie Veränderungen erkennen und Eltern haben oft ein gutes Bauchgefühl für ihre Kinder. Kinder wollen die Vorstellungen ihrer Eltern erfüllen, ja, sie kooperieren oft auf Kosten ihrer psychischen und physischen Gesundheit, aber das muss nicht sein. Wenn Kinder bedingungslos geliebt werden, dann gibt ihnen das die Kraft, die sie für ein gelingendes Leben brauchen.
Mein Sohn ist in der Oberstufe und wenn sie ein Thema behandeln und er davon erzählt, stelle ich mich gedanklich auf einen längeren Zeitraum ein, in dem es zum Beispiel um die Zeit des „Barock“ oder den 2. Weltkrieg geht, da die Themen so komplex und auch wichtig sind. Doch nur wenige Tage später geht es schon wieder um andere Epochen und Ereignisse. Die Lehrer und Lehrerinnen jagen einem Bildungsplan hinterher, der sinnvoll nicht zu erfüllen ist. Eigentlich können Eltern an dieser Stelle doch überhaupt nichts bewirken?
Ich stimme ihnen zu und denke, es ist relativ sinnbefreit, durch Ereignisse und Epochen zu hetzen und das ist es unter anderem, was ich am Schulsystem kritisiere. Es geht um Tempo und nicht und Tiefe. Für ihren Sohn ist das jetzt so, da werde ich sehr pragmatisch und es wird sich auf den letzten Metern auch nicht mehr ändern. Was das Lernen betrifft, ich denke, man kann die Schule getrost den Jugendlichen überlassen. Wenn sie Unterstützung haben wollen, dann sollen sie sie bekommen. Falsch ist es aber, ihnen Aufgaben abzunehmen. Sie müssen lernen, sich um ihre Aufgaben zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen und das kann ihr Sohn, weil er sonst nicht in der Oberstufe wäre. Was sie tun können, Sie können ihm den Rücken stärken, wenn es nicht wunschgemäß läuft, und sie können ihm immer wieder sagen, dass sie seinen Unmut verstehen und es letztendlich seine Entscheidung ist, ob er den direkten Weg zum Abi geht oder Umwege. Er ist fast am Ziel, – das ist die gute Nachricht.
Ein anderes Beispiel: Schon in der Grundschule haben die meisten Kinder mindestens in einem Fach Nachhilfe (meistens in Mathematik, einfach, um überhaupt mitzukommen). Als ich die Lehrerin darauf ansprach, lautete die Antwort: „Die Guten kommen mit, um den Rest tut es mir leid …“ Hier ist als Elternteil nicht einfach gelassen zu bleiben.
Hier ist Gelassenheit auch das falsche Signal. Was bitte ist DAS für eine Haltung? Ich glaube, wenn eine Lehrerin eine solche Aussage macht, hat sie schlicht und ergreifend den falschen Job. Eltern sollten in einem solchen Fall hinter ihren Kindern stehen und lieber die Kompetenz der Lehrerin hinterfragen, als ihre Grundschulkinder zu pushen.
Faultier Frieda, das in Ihrem Buch an vielen Stellen zu Wort kommt, beklagt sich über den Umgang der Gesellschaft mit Kindern. Was genau stört Frieda? I
Frieda versteht nicht, dass wir uns so wenig Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben nehmen und die Kindheiten unserer Kinder dem Bildungspanikdrachen opfern. Sie kann nicht glauben, dass Kinder so oft durch zu viel Förderung überfordert sind und sie dadurch oft viel zu wenig Zeit zum Spielen haben – und zwar zum freien Spielen. Frieda wünscht sich, dass sich jede Familie den Weg aussuchen kann, den sie mit ihren Kindern gehen möchte. Frieda steht für intelligenten Energieeinsatz, für Zielstrebigkeit, für Lebenstiefe, Gelassenheit und Entspannung. Frieda sagt: „Euch geht es immer nur uns Werden, das Sein kommt im Leben viel zu kurz.“
„Fuck the Gymnasium!“ heißt ein Kapitel im Buch. Was haben Sie gegen das Gymnasium?
Ich habe nichts gegen das Gymnasium und ich verstehe, dass viele Eltern ihre Kinder am liebsten im Gymnasium sehen wollen. Das Gymnasium ist derzeit die Tür, die alle Möglichkeiten öffnet: Das Kind kann studieren und es kann eine Ausbildung machen. Ich setze mich für Kinder ein, für die das Gymnasium nicht der richtige Weg ist, aus welchem Grund auch immer, Intelligenz ist es selten, eher die Herkunft. In Deutschland ist die Schulart, die Kinder besuchen sehr oft mit dem sozioökonomischen Status verbunden. Die Kritik, die ich habe, ist, dass die Mittelschule (ehemals Hauptschule) dadurch vollkommen entwertet wird und es kaum jemanden gibt, der sein Kind in der Mittelschule haben möchte, wenn eine der anderen beiden Schulen möglich wäre. Die Realschule ist gerade noch so okay, aber Kinder, die in der Hauptschule sind, sind die abgestellten Kinder. Darüber müssen wir nachdenken. Wollen wir die Schulschichtzugehörigkeit so zementieren? Wir müssen das nicht tun, wir könnten auch anders.
Was brauchen Kinder also für einen Start in ein glückliches, gesundes und selbstbewusstes Leben?
Wenn man Kinder ansieht und überlegt: Wo sind ihre eigentlichen Interessen? Wo hat ein Kind Talente? Wir sollten nicht versucht, Kinder in Formen zu pressen, sondern uns fragen: Wo hat dieses Kind seine Fähigkeiten und Interessen?
Kinder wollen ihren Eltern gefallen und machen viel, damit sie ihren Eltern gefallen und von ihnen geliebt werden. Manchmal verlieren sie sich dabei selbst, weil sie sich zu sehr auf das konzentrieren, was von ihnen erwartet wird. Ich glaube aber, dass Kinder, die ihren eigenen Weg gehen und dabei von ihren Eltern unterstützt werden, wirklich glückliche Kinder werden. Kinder brauchen Zeit. Wenn sie merken, dass es sich lohnt, an etwas dranzubleiben, wenn sie ihre Fähigkeiten wachsen sehen, merken, wie sie weiterkommen und immer besser werden, dann lernen sie gerne. Das ist die Magie des Lernens. Alle Kinder wollen lernen, sie wollen wachsen und das in jeder Hinsicht. Die Angst davor, dass ein Kind faul sein könnte, ist unbegründet. Jedes Kind will laufen lernen, will beim Klettern hoch hinaus, will sprechen lernen.
Und wie können Eltern in einem System gelassen bleiben, dass klar auf Leistung ausgerichtet ist?
Wir sind das System, denn jeder von uns trifft Entscheidungen, die das System am Laufen halten. Wir treffen auch die Entscheidung, gelassen zu bleiben oder uns aufzuregen. Wir sind nicht die Marionetten unserer Emotionen und Gefühle, wir können lernen, sie zu steuern. Fakt ist: Jede Entscheidung hat ihren Preis, wir haben die Wahl und dadurch auch die volle Verantwortung. Ja, das ist anstrengend, aber es lohnt sich gelassen zu sein – nicht zuletzt für unsere Kinder.
Interview: Bettina Wolf
Anke Elisabeth Ballmann: Das Faultier-Prinzip. Wie Kinder in ihrem Lebenstempo gelassen und frei ihre Fähigkeiten entwickeln und die Welt für sich entdecken. Kinder stärken und unterstützen – ganz ohne Leistungsdruck! Goldegg Verlag, 2022. 20.- Euro.
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