Wohnen ist eines der großen Zukunftsthemen unserer Gesellschaft. Das wissen wir nicht erst seit der letzten Bundestagswahl, in der sämtliche Parteien das Thema prominent in Programmen und auf den Plakaten im Wahlkampf platzierten. Wohnen ist das Thema mit dem größten Spannungs- und Spaltungspotential, denn: Das Wohnen wird immer teurer. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich werden auch durch dieses Thema immer größer. „Wohnen kann arm machen“, warnte vor kurzem die Hans-Böckler-Stiftung.
Doch auch der Klimawandel, die Isolation in den Großstädten, die Einsamkeit im Alter und die steigende Wohnungsnot führen dazu, dass immer mehr Menschen über sinnvolle Alternativen des Wohnens nachdenken. „Alternatives Wohnen“ galt lange Zeit als Schlagwort für eine Alternative zu den gängigen Wohnformen und als Protest einiger Menschen, die sich vom Rest der Gesellschaft abgrenzen wollten. Das hat sich grundlegend geändert. Immer mehr neue Initiativen zeigen bundesweit: Es geht auch anders! Doch wie sieht es aus, das Wohnen der Zukunft?
Das Projekt Vielfalt in Ladenburg vereinigt alle Anforderungen, die das Wohnen der Zukunft an die Gesellschaft stellt: Nachhaltige Bauweise, Wohnungen, die individuell je nach Lebensform verkleinert oder vergrößert werden können, ein Ort mit Gemeinschaftsraum und Toberaum für Kinder, mit Gästehäusern und vielen Gemeinschaftsorten für die zwanglose zufällige Begegnung, aber auch mit Platz für die Schwächsten der Gesellschaft. Eine Palliativ-WG soll es geben, eine Pflege-WG, eine Cluster-WG für Menschen mit Behinderungen. Eine Kita vielleicht, ein Gesundheitshaus, einen Gemeinschaftsgarten, eine Gemeinschaftswerkstatt und Platz für viele Einzelprojekte. Ein Ort für das generationenübergreifende Zusammenleben von Familien, Singles, Paaren und Alleinerziehenden in den unterschiedlichsten Lebens- und Altersphasen. Ein Projekt, das Häuser mit energiesparender und klimaneutraler Haustechnik plant. Mit Häusern, die nicht nur Energie verbrauchen, sondern zurückzahlen. Aber noch ist nichts davon gebaut.
Ein Dorf als Stadt?
Ein Dorf in der Stadt!
Die Adresse „Nordstadt-Kurzgewann“ findet unser Navi nicht. Aber so viele unbebaute Neubaugebiete in Ladenburg wird es ja nicht geben, vertrauen wir und fahren einfach quer durch die pittoreske alte Römerstadt. Tatsächlich. Am Ortsausgang, aber noch mit Blick auf die Stadt, warten drei Menschen auf uns.
Still ist es hier, trotz angrenzender Baustellen, die Vögel zwitschern. Hier soll also das Projekt „Vielfalt“ entstehen, für das sich der Kern von drei Menschen seit sieben Jahren unermüdlich einsetzen? Bisher zu sehen: eine 7500 Quadratmeter große Wiese, ein Weg und ein Plakat, das Werbung für das Bauvorhaben macht.
Wir treffen heute Emine Yildirim, Mitbegründerin des Projekts und Vorstand von habito e.V., Ksandra Kling, zukünftige Bewohnerin, und Fred Hammerschlag, Ladenburger und Grünen-Politiker.
„Was Sie hier sehen, ist Unkraut und sonst nix“, sagt Fred Hammerschlag. Und doch merkt man den dreien an, dass sie hier schon alles Mögliche sehen. Luftige Häuser, gebaut aus Holz und Glas, Bäume, Laubengänge, autofreie Plätze … und alles mit Blick auf die Altstadt von Ladenburg. „Denn“, so Fred Hammerschlag, „das geplante Quartier hat viel mit der Stadt zu tun.“ Eigentlich sei es eine nahtlose Erweiterung der Stadt.
Die Idee für das Projekt kam Emine Yildirim, als sie in Elternzeit war. „Ich habe mir damals viele Gedanken gemacht, wie eine alternative Gesellschaft aussehen kann, wie gemeinschaftliches Wohnen konzipiert werden muss, damit wir die Ursprünglichkeit dörflicher Strukturen zurück in die Stadt holen können.“
Wichtig war der Planungsgemeinschaft von an Anfang an, dass etwas komplett Neues entstehen soll. Keine weitere Siedlung mit Ein- oder Mehrfamilienhäusern. Sondern ein Ort, der Raum „für alle“ biete, mit einem Mehrgenerationenhaus als Mittelpunkt und einer Cluster-WG für Menschen mit Behinderung. „Es gibt so viel Andersartigkeit in der Gesellschaft“, so Yildirim, „und die wollen wir auf dem Areal abbilden. Den kompletten Querschnitt der Gesellschaft: ältere Menschen, junge Familien, kranke Menschen, Menschen mit viel und mit wenig Geld.“
Um diese Vielfalt abzubilden, wird es für das zukünftige Quartier unterschiedliche Eigentumsformen geben. Für eine ausgewogene Struktur der Bewohner mischen sich Eigentumshäuser und Wohnungen mit Wohnungen in der Genossenschaft.
Sämtliche Wohneinheiten sind barrierefrei mit Fahrstühlen erreichbar und im Südwesten und Südosten durch Laubengänge miteinander verbunden. „Die Laubengänge mit ihren vielen Vorsprüngen und Rückzugsorten sind der ideale Ort für zufällige und spontane Begegnungen“, erklärt Hammerschlag. Die Barrierefreiheit soll gewährleisten, dass der Umzug für ältere Menschen ein langfristiges Projekt ist, dass sie nicht noch mal in ein Alten- oder Pflegeheim umziehen müssen. Gebaut wird in ressourcenschonender Hybridbauweise und wenn möglich sogar in Holzbauweise; mit Solarthermie und Photovoltaikanlage als Ergänzung zur Nahwärmeversorgung. Unter den Boden wird eine Schicht Magerbeton eingelassen, als Wärmespeicher, den man im Winter „ernten“ kann.
Inzwischen ist die Gruppe der zukünftigen Bewohner fast komplett. Anfragen kommen aus ganz Deutschland. Trotz vieler unterschiedlicher Menschen und Meinungen wird an dem Projekt in selbst organisierten Arbeitsgruppen gearbeitet, und, in Anlehnung an die Soziokratie, auch abgestimmt. Nur einige Leitlinien hat die Gründungsgruppe ganz zu Beginn festgelegt, doch alles andere wird in einem dialogischen Prozess weiterentwickelt. „Es soll ja ein Projekt für alle Bewohner sein“, erklärt Yildirim, „und alle sollen es gestalten können, um sich dann auch damit zu identifizieren.“
Gekostet hat das Projekt bisher nicht nur viele Stunden Planungsarbeit, sondern auch viel Geld. Denn ganz ohne professionelle Hilfe geht es natürlich nicht. Unterstützt wird das Projekt vom Verein habito e.V., der in Heidelberg das Mehrgenerationenhaus betreibt. Und die wohnprojekt+ beratung und entwicklung GmbH, Rainer Kroll, aus Karlsruhe begleitet den Prozess.
Interessierte sind herzlich willkommen. Anfragen unter: vielfalt-ladenburg.de
bw // Fotos: Simon Hofmann