8.15 Uhr. Ladenburg. Im Foyer der Martinsschule wuselt es und wimmelt es von Schülern jeder Altersstufe. Gleich geht der Unterricht los. Manche Kinder wurden von Bussen gebracht, andere vom Krankenwagen, einige wenige von ihren Eltern. Nicht viele Schüler sind so selbständig und beweglich, dass sie – ob mit oder ohne Rollstuhl – in einen normalen Kleinwagen passen. StadtLandKind darf einen Schultag lang Gast sein und hautnah miterleben, wie schwerbehinderte Kinder den Unterricht erleben.
8.30 Uhr. Wir sitzen in der Berufsschulstufe für geistig Behinderte. Die jungen Erwachsenen lernen hier Antworten auf die einfachsten, aber grundlegenden Alltagsfragen: Wie heiße ich? Wie heißt meine Mutter? Will ich Orangensaft oder Wasser zum Mittagessen? Gina (sämtliche Namen der Kinder und Jugendlichen wurden von der Redaktion verändert) ist 16. Sie hat ein offenes Lächeln und ist offensichtlich neugierig auf den Besuch. Sprechen kann sie nicht – und: sie kann sich auch nicht bewegen, mit keinem Teil ihres Körpers, abgesehen von den Augen. Gina hat einen hochmodernen Spracherkennungs- Computer, den sie mit ihren Augen steuern kann. „Wie heißt Du? Wie alt bist Du? Hast Du Geschwister?“, lässt sie uns ihren Computer fragen. Und erzählt wiederum ausführlich von sich und ihren Cousins.
Neben ihr sitzt Kalim. Er kommt aus der Türkei und hat noch viele Geschwister. Kalim hat heute keine Lust auf Unterricht, er legt sich unter die Heizung und will da auch bleiben. Kalim ist so vielfach geistig behindert, dass es praktisch keine Möglichkeit gibt, mit ihm zu kommunizieren. Unser Besuch scheint ihn zu beunruhigen. Er fängt an sich heftig seitlich an den Kopf zu schlagen und hört erst damit auf, als sein Betreuer kommt und sanft Kalims Hände in seine Hand nimmt. Kalim seufzt leise und wird ruhiger.
In Deutschland gibt es eine Schulpflicht – und die gilt für alle Kinder
Hat es überhaupt Sinn, dass so vollkommen in sich eingeschlossene Kinder zur Schule gehen, fragen wir uns unwillkürlich. Oder: Kinder, die nur liegend und in Betten gelagert vom Krankenwagen zur Schule transportiert werden können? „Die Frage stellt sich nicht!“, antwortet uns später im Gespräch die stellvertretende Schulleiterin Brigitte Spies-Bechtel. „In Deutschland gibt es eine Schulpflicht und die gilt für alle Kinder. Und, Sie können ganz sicher sein: auch wenn es Außenstehende nicht sehen können: selbst schwerstbehinderte Kinder bekommen etwas von ihrer Umgebung, also auch vom Schulalltag mit.“
Die Stunde in der Berufsschulstufe nähert sich ihrem Ende. Viel weiter als über die Vorstellungsrunde ist man nicht hinausgekommen. Alle freuen sich jetzt auf das „Schülercafé“. Das findet jeden Freitag statt. Eine Klasse von Förder- und Hauptschülern bereitet für die ganze Schule belegte Brote, Kuchen, Pudding und Rührei vor. Jede Klasse gibt ihre Bestellung auf und wer kann, holt sich in der großen Pause eigenständig seine Bestellung – und bezahlt sie auch eigenständig. Daniel hatte keine Lust sich uns vorzustellen. Er will nach Hause oder zumindest endlich sofort ins Schülercafé. Und da gehen dann auch alle hin.
In der Mensa laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Anthea bereitet die Tabletts vor. Hochkonzentriert zählt sie die Teller durch. Etwas fehlt. Aber was? Sie läuft in die Küche, um nachzufragen. Zurück kommt sie erst mal nicht mehr. Irgendeine andere Aufgabe oder Situation hat sie nachhaltig abgelenkt. Paul nimmt Geld entgegen und gibt heraus. Eigentlich sind es ganz normale Abläufe, nur viel langsamer als gewohnt. Manchen Kindern sieht man ihre Behinderung nicht an. Überhaupt: Behindert. Das ist hier kein Schimpfwort. Sondern einfach Alltag. Wir lernen Nina kennen (in Absprache dürfen wir Ninas richtigen Namen nennen). Nina ist zehn Jahre alt und lacht uns freundlich an. Sie hat nur ganz wenig Kraft in den Armen, seit der Geburt leidet sie an „Spinaler Muskelatrophie“. Noch kann Nina ihren rechten Arm heben und den Spracherkennungs- Computer selbst bedienen. Sie hatte sich eigentlich Pfannkuchen bestellt. Es gibt aber nur Rührei. Schnell macht Nina deutlich, dass ihr Rührei nicht schmeckt. „Möchtest Du ein Käsebrötchen?“, fragt ihre Bewegungstherapeutin Martina Hohagen. „Ja“, sagt der Computer. Wir beginnen uns mit Martina Hohagen zu unterhalten. „Käse! Käse! Käse!“ sagt plötzlich der PC laut und deutlich.
Später erzählt uns Nina von ihrem Hund Lenny, einem Golden Retriever. Er ist noch jung und wird zurzeit als ihr Therapiehund ausgebildet. Irgendwann soll er Nina bei der Bewältigung des Alltags helfen. Wir missverstehen Ninas entzückende Freundlichkeit und kommen ihr mit der Kamera zu dicht und oft zu nah. „Stopp!“ sagt der Computer und wir merken erst jetzt, dass wir eine Grenze überschritten haben. Und schämen uns. „Alle Kinder sind auf gewisse Weise schutzlos, aber behinderte Kinder sind ihrer Umwelt geradezu ausgeliefert“, macht ihre Bewegunstherapeutin klar. Die Signale eines normalen Kindes hätten wir schneller entschlüsselt.
Nach der großen Pause geht es weiter in den Proberaum der Schülerband „Crazy Schüler.“ Die aktuelle CD heißt „Achtung: crazy“ und geprobt wird heute für das Konzert in der Alten Synagoge in Hirschberg. Alle Songs haben die Schüler, gemeinsam mit dem Musiklehrer Martin Gehrig und teilweise mit Musikern der Mannheimer Pop- Akademie selbst geschrieben. Meistens geht es – na klar – um die Liebe. Aber auch ums Laufen-Können. „Einmal nur, einmal nur laufen können“, singt Lea. Die 14-Jährige ist mehrfach schwerstbehindert. Ihr Kopf braucht eine Extra- Stütze. „We stand like Heroes“, singen am Ende der Probe alle im Refrain, „we are standing tall“.
Der Proberaum der Band ist mit modernster Ton- und Lichttechnik ausgestattet. Die Musikinstrumente sind neu und von bester Qualität. Der gesamte Schulkomplex strahlt etwas Wohlüberlegtes und Wohlausgestattetes aus. Das Gebäude selbst ist hell und luftig, wie auch das Gelände und der Schulgarten. Breite Rampen und Fahrstühle führen in die Stockwerke, jede Klasse ist mit einem Ausgang zum Garten oder einem der Höfe verbunden.
Es gibt ein spezielles Schwimmbad, ein Wassertraumbett, eine Pflegeund Krankenstation, einen Schwarzlichtraum (genannt „Gebärmutter“) und als Herzstück: den Klangraum. Hier werden die Schüler auf den Boden gebettet und können durch die unter dem Parkett installierten Lautsprecher Musik erfühlen, selbst wenn sie weder hören noch sich bewegen können. Natürlich existieren auch sämtliche, ganz normale Ausstattungsmerkmale einer Schule, angefangen von Computer-, Werk- und Atelierräumen über Sportplätze und Turnhallen, bis hin zu modern ausgestatteten Klassenräumen.
„Das Thema Inklusion wird an seine Grenzen kommen“
An der Martinsschule ist jedes Kind individuell behindert, hat einen individuell zugeschnittenen Rollstuhl und wird natürlich auch vollkommen individuell unterrichtet und gefördert. „Für uns war es ein großes Glück, dass wir unseren Neubau genehmigt bekamen, bevor Deutschland die UN-Charta zur Inklusion unterschrieben hat“, erklärt Brigitte Spies-Bechtel. „Seitdem fließt das ganze Geld in die Inklusion. Ich halte das für einen großen Fehler. Mit der Unterschrift hat es sich Deutschland zu leicht gemacht. Der Staat hat das Problem in die Schulen verlagert, es ist aber eine gesellschaftliche Aufgabe und keine schulische!“ Trotzdem ist sie natürlich sehr froh darüber, dass „alle behinderten Kinder zu allen gesellschaftlichen Bereichen gleichberechtigt Zugang finden“. Und stellt abschließend fest: „Für viele Kinder ist die Inklusion ein Segen, aber die Mehrheit unserer Schüler würde in einer normalen Schule untergehen.“ Bettina Wolf // Fotos: Simon Hofmann