StadtLandKind-Autorin Nicole Pollakowsky im Gespräch mit der Kinderbuchautorin Kirsten Boie über abenteuerlustige Mädchen, sanfte Jungen sowie über Macht und Möglichkeiten von Kinderliteratur.
Frau Boie, mit Gendermarketing lassen sich gute Geschäfte machen – das funktioniert auch im Buchhandel: romantische Einhörner für die Mädels, wilde Piraten für die Jungs. Aber Ihre Bücher lassen sich nicht in Jungen- oder Mädchen-Titel einteilen. Warum spielen Sie das Gender-Spiel nicht mit?
Ich wünsche mir einfach, dass alle Kinder alle Möglichkeiten haben, unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht, sich nicht von vornherein von außen festgelegt fühlen. Natürlich und zum
Glück gibt es unzählige starke, wilde, abenteuerlustige Mädchen – genau wie sanfte, ängstliche, zurückhaltende Jungs. Sollen die nun alle das Gefühl haben, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt? Sollen diese Mädchen zu „Jungsbüchern“ greifen müssen, um sich mit den Helden von Geschichten identifizieren zu können, und umgekehrt die Jungs zu „Mädchenbüchern“?
Glauben Sie nicht, dass es manche Themen gibt, die vor allem die Mädchen interessieren und andere, die mehr etwas für Jungs sind?
Quasi genetisch? Mag ja zum Teil vielleicht sein. Ich bin aber gerne vorsichtig, wenn es um pauschale Aussagen geht. Und meine persönliche Erfahrung ist: Zu meinen Büchern vom „Kleinen
Ritter Trenk“ bekomme ich genauso viel Post von Mädchen wie von Jungen; und zu den „Möwenweg“-Geschichten, die Ich-Erzählerin ist ein neunjähriges Mädchen und es geht um alles andere als Abenteuer, Horror oder Technik – in der letzten Zeit sogar mehr Post von Jungen. Ganz offensichtlich sind Kinder also keineswegs so festgelegt, wie wir immer glauben; zumindest nicht, wenn wir ihnen nicht einreden, dass Jungs nur so und Mädchen nur so zu sein haben.
Im Buch „Seeräuber Moses“ spielen Sie viel mit den Geschlechterrollen. Auch Ritter Trenks Freundin Thekla kann „mehr als ein Mädchen damals können sollte“. Und von Juli lernen wir, dass ein Junge auch weinen und Angst vor Klo-Monstern haben darf. Warum ist es für Sie wichtig, in Ihren Büchern Rollenklischees zu durchbrechen?
Ich wünsche mir, dass viele Türen für Kinder möglichst lange offen stehen. Wann denn sonst, wenn nicht in der Kindheit, sollte jeder Mensch die Chance haben, erst einmal herauszufinden, was ihm wirklich gefällt und wer er wirklich ist? Später sind wir dann irgendwann tatsächlich festgelegt, da wird es schwieriger. Aber sollten Kinder sich nicht ausprobieren dürfen? Und sollten wir nicht gelassen auch dann reagieren, wenn sie plötzlich Wünsche äußern oder Verhaltensweisen an den Tag legen, die wir für typisch für das jeweils andere Geschlecht halten? Öfter als wir denken ist nämlich genau das nötig, um nicht das Gefühl zu haben: „Mist, dass ich ein Junge/Mädchen bin,darum darf ich nicht…“ Das Ergebnis sind dann selbstbewusste Kinder, die sich, ihre Fähigkeiten und ihre Wünsche kennen – und mit sich einverstanden sind. Übrigens finde ich es andersherum ebenso problematisch: Wenn Eltern verlangen, dass Jungen nun unbedingt nur noch rosa tragen sollen und Mädchen nur noch Spaß an Technikspielzeug haben. Die Rollenklischees einfach nur umzukehren hilft genauso wenig wie das Kleben an traditionellen Rollenklischees. Es geht einfach nur um Offenheit und die Möglichkeit zu selbstbewusstem
Erproben.
Die Idee, dass die Unterteilung der Welt in Rosa und Hellblau richtig und naturgegeben sei, bekommt gerade wieder Aufwind. Hat Kinderliteratur die Macht und die Möglichkeit, ein Zuschnappen dieser Rosa-Hellblau-Falle zu verhindern?
Da bin ich optimistisch: Bestimmt! Aber ganz sicher nicht alleine. Literatur wirkt ja auf eine ganz bestimmte Weise: Da sie mir nur Wörter liefert, keine Bilder, muss ich mir alles andere, die Figuren, die Landschaften, die Gefühle der Personen, aus meinem eigenen Kopf, meinen eigenen Erinnerungen, Wünschen und Gefühlen basteln. Nur dadurch werden Geschichten für den Leser oder Zuhörer lebendig. Und genau dadurch können sie auch eine so starke Wirkung haben. Aber dazu müssen solche Bücher eben erstmal an die Kinder kommen!
npo // Foto: Indra Ohlemutz
Kirsten Boie, geboren 1950 in Hamburg, gehört zu den bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen Deutschlands. Nach ihrem Studium und der Promotion in Literaturwissenschaft arbeitete sie als Lehrerin, musste die Berufstätigkeit auf Verlangen des Jugendamtes jedoch aufgeben, als sie ihr erstes Kind adoptierte. Daraufhin begann sie zu schreiben. Inzwischen sind über hundert Bücher von Kirsten Boie erschienen, für die die Autorin vielfach ausgezeichnet wurde, unter anderem 2007 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Im Weinheimer Beltz Verlag sind von Kirsten Boie die (hinreißenden) Geschichten über die Erlebnisse des Kindergarten-Jungen Juli erschienen.