Mein liebes großes Schulmädchen,
bald ist es soweit. Bald bist Du ein Schulkind. Während andere Kinder schon seit Monaten über nichts anderes reden, fängst Du jetzt erst ganz langsam damit an. So ganz hast Du es noch nicht begriffen, um was es in der Schule eigentlich gehen wird. Wer zum Beispiel dann der Lehrer sein wird und wer die Schüler … Oder den Unterschied zwischen Zahlen und Buchstaben. Oder den Unterschied zwischen heute und morgen.
Nicht nur das macht mir Sorgen (und dir auch.) Sondern auch deine plötzlichen Launen. Und deine Wut.
Nachdem wir sechs wunderbare, fröhliche und sehr symbiotische Jahre zusammen hatten, wirst Du mir jetzt zum ersten Mal fremd.
Ich merke, dass auch Du anfängst Dir Sorgen zu machen. Ob ich Dir noch schnell Lesen beibringen könnte, hast Du mich gestern gefragt. Alle anderen würden es längst können. Dinge dagegen, die Du seit Jahren im Schlaf beherrscht, werden plötzlich zu Hindernissen.
Deinen Namen schreiben, zum Beispiel.
Plötzlich schreibst du ihn nur noch rückwärts.
Oder deutlich sprechen.
Das kann auch an deiner Zahnlücke liegen … aber wenn ich nicht so viel Übung hätte und meistens weiß, was Du sagen willst – ich würde dich überhaupt nicht mehr verstehen. Wenn ich aber doch mal nachfrage, wirst Du wütend. Schmeißt dein frisch gekauftes Eis auf den Boden. Knallst Deine Zimmertür zu. Rennst weg. Trödelst mit Absicht ganz weit hinten herum. Ärgerst den Hund.
Zu allem, was ich sage, hast Du ein „Nein, keine Lust“ parat. Oder antwortest erst gar nicht.
Ich merke, wie ich zum ersten Mal mit Dir an meine Grenzen komme. Deine langen Haare kämmen? Nö! Dann doch lieber ein kleines bisschen kürzen? Schon mal gar nicht! Mir kommt es vor, als wüsstest Du selber nichts mehr mit Dir anzufangen. Als würdest Du dich nicht mehr kennen und mögen. Zwischendurch willst Du plötzlich wieder wie ein Baby auf dem Arm getragen werden. („Du magst doch Babys so gern Mama, wieso trägst Du mich dann nicht?“) Mit Logik komme ich bei dir zurzeit nicht weiter!
Deine Erzieherin im Kindergarten konnte mich auch nicht wirklich „trösten“. Das sei normal. „Wackeln die Zähne – wackelt die Seele“ meinte sie nur und empfahl mir selbiges Buch zur Lektüre.
Aber! Warum scheint das nur uns so zu gehen? Deine Freundinnen schreien ihre Mütter nicht an (ich dachte übrigens immer, das gehört in die Pubertät).
Dein großer Bruder war da ganz anders. Heilfroh dem Kindergarten zu entkommen, fand er damals prinzipiell alles, was ich gesagt oder gemacht habe toll.
Ich war seine aufgehende Sonne.
Bei dir kann ich froh sein, wenn etwas von deinem funkelnden Licht ab und zu auf mich fällt.
Trotzdem – und das ist eigentlich verrückt – habe ich mir um deinen Bruder vor seiner Einschulung viel größere Sorgen gemacht. Seine Empfindsamkeit, seine Zartheit … würde er mit den wilden Jungs mithalten können? Würden ihn alle ärgern? Die Fotos von seiner Einschulung zeigen mich mit großer schwarzer Sonnenbrille und verheultem Gesicht.
Deshalb mein liebes kleines, großes Schulmädchen: ich habe größtes Vertrauen in Dich. Selbst wenn Du jetzt vergessen hast wie man Schleifen bindet.
Ich merke, dass Du anfängst Dich zu freuen. Auf etwas Neues. Nun warst Du endlich eine der „Großen“ im Kindergarten, durftest Verantwortung übernehmen. Diesen Zustand hättest Du wohl gern noch etwa ausgedehnt. Ich würde es dir gönnen – wenn ich dir zusehe, weiß ich aber, dass Du bestens gerüstet bist für die Welt.
Was Du bisher schon alles warst. Eine Kletterexpertin. Eine Pferdeflüsterin. Eine Ballerina. Eine große Sportlerin. Abenteurerin. Eine Freundin. Eine Trösterin. Eine Tochter. Jede dieser Rollen hast Du mit so viel Eifer und Geschick ausgefüllt. Und jetzt wirst Du ein Schulkind. Und zwar eines, das den Schulhof im Sturm nimmt. Auch wenn dich dein eigener Sturm erst noch mal so richtig durchwirbeln wird. (Und mich auch).
Deine Mama
Bild: Simon Hofmann