Hallo, Ihr Arschlöcher!«, so begrüßt Véronique Poulain eines Tages ihre Eltern, als sie aus der Schule heimkehrt. Die Reaktion: eine zärtliche Umarmung. Véroniques Eltern sind gehörlos. Véronique hat ihre Klassenkameraden dabei. Keiner wollte ihr glauben, dass ihre Eltern taub sind …
Véronique Poulain hat taubstumme Eltern. Sie selbst hört bestens. Das kann ganz schön nerven. Denn: „Man macht sich überhaupt keine Vorstellung, wie laut Gehörlose sind!“ Der Vater schlurft schon am frühen Morgen durch die Wohnung, er knallt die Türen gegen die Wände, er weiß nicht, dass Pinkeln im Stehen einem „Sturzbach“ gleichkommt. Und den sich anschließenden zufriedenen Seufzer möchte die Teenager-Tochter auch nicht hören.
Ganz zu Schweigen vom elterlichen Sex. Gehörlose lieben Sex. Lauten, hemmungslosen Sex. Und es macht ihnen auch nichts aus, mit der Tochter über Sex zu sprechen. Die Mutter besteht darauf, Véronique in die Details ihres Geschlechtslebens einzuweihen, anhand von „Gebärden ohne jede Zweideutigkeit, verruchte Mimik und triefender Mund, ich bin sprachlos, wie gelähmt vor Verblüffung und Verlegenheit.“
Der Vater beim Mittagessen? „Der perfekte Appetitzügler.“ Es wird lauthals geschlürft, geschmatzt, gefurzt, gekaut … Das Problem: man kann Gehörlosen ja nicht erklären, was sie für ein Getöse veranstalten. Das beobachtet Véronique auch bei ihren ebenfalls gehörlosen Verwandten. Ist die Tante aufgeregt, klopft sie mit der Zunge gegen den Gaumen, „ticktack“, lauter als die „Uhr am Gare du Nord.“ Der Onkel „stöhnt vor Zufriedenheit, wenn er auf der Straße ein hübsches Mädchen sieht.“ Hörende können so die Gemütsbewegungen der Gehörlösen nicht nur sehen – sondern auch hören. Mit den Eltern fernzusehen? Unmöglich. Alle fünf Minuten brauchen sie einen Dolmetscher.
Wenn Véronique aber mal telefonieren will, können die Eltern das kaum ertragen. Der Vater beobachtet sie misstrauisch. Warum redet sie stundenlang mit ihren Freundinnen. Und worüber? Reden sie etwa über ihn?
Als Kind ist Véronique eigentlich ziemlich stolz, wenn sie sich vor aller Augen in Gebärdensprache unterhält. Doch möchte sie nach ihrer Mutter rufen, muss sie sich etwas einfallen lassen. Geweint hat sie als Baby nie, es hätte ja doch keinen Sinn gehabt, niemand wäre gekommen. Später ist es vor allem peinlich. Und als Erwachsene erlebt sie dann voller Erstaunen und Stolz, wie sich ihre Eltern Ende der 70er Jahre beginnen für die Gehörlosen in Frankreich einzusetzen. Der Onkle gründet die Gehörlosenakademie, der Vater entdeckt sein schauspielerisches Talent spielt in zahlreichen bekannten Filmen mit. Ihre Familie trägt aktiv dazu bei, dass sich die Welt der Gehörlosen ändern und verbessert.
„Worte, die man mir nicht sagt“ ist das erste Buch der 1965 in Paris geborenen Véronique Pualain. Humorvoll, unsentimental und anrührend erzählt Poulain von ihrer Kindheit – und gewährt dem Hörer einen eindrucksvollen Blick in die Welt der Gehörlosen. Und gibt zudem spannende Einblicke in die Gebärdensprache selbst. Eine Sprache, die ohne Metaphern, Artikel oder Konjugationen, ohne Sprichwörter, Leitsätze, Adverbien und Wortspiele auskommen muss.
Worte, die man mir nicht sagt. Mein Leben mit gehörlosen Eltern. 160 Seiten. Aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli. Ullstein Verlag 2015, 14.99 Euro