Noch nie waren Kinder so traurig wie heute. Das sagt eine neue Studie des Instituts für Generationenforschung über die „Generation Alpha“, die die seit 2010 geborenen Kinder umfasst. Aber nicht nur „traurig“, fand Studienleiter und Autor des frisch erschienenen Sachbuchs „Generation lebensunfähig: Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden“, Rüdiger Maas im Gespräch mit Eltern und Pädagogen heraus, sondern noch dazu „unglücklich, sprachlich defizitär und sozial auffällig“. Seine Hauptthese: Viele Kinder der Generation Alpha seien überbehütet und dieser Zustand sei ebenso schlimm, wie Vernachlässigung. Wie kann das ein, dass das, was liebevolle und engagierte Eltern erreichen wollen, sich ins Gegenteil verkehrt?
Sehr geehrter Herr Maas, Ihr jüngst erschienenes Buch: „Generation lebensunfähig“ wagt einige sehr prägnante Thesen. Wir hoffen also sehr, dass Sie auch nichts gegen einige kritische Fragen haben. Generation lebensunfähig. Das klingt eingängig, aber auch provozierend. Meinen Sie das wirklich ernst?
Durchaus. Natürlich ist nicht eine ganze Generation lebensunfähig, aber ein großer Prozentsatz entwickelt sich in diese Richtung: Überbehütet in der analogen Welt und alleingelassen in der digitalen Welt. Heute haben immer jüngere Menschen ein Smartphone und leben damit in einer Parallelwelt. Und das, obwohl wir zurzeit die erste Elterngeneration haben, die eigentlich selber digitalaffin ist, und trotzdem nicht nachvollziehen kann, was ihre Kinder im Internet eigentlich machen.
Wie kam Ihnen die Idee, ein Buch über diese Generation zu schreiben, die ja teilweise noch nicht einmal geboren ist?
Bisher haben wir uns in unseren Studien immer auf die Generation im Arbeitskontext konzentriert – also auf Jugendliche und junge Erwachsene. Die Idee zu diesem Buch ging eigentlich von den Arbeitgebern aus, die auf uns zukamen und wissen wollten: wie tickt denn die nächste Generation? Worauf müssen wir uns einstellen? Da wir Kleinkinder ja nicht befragen können, haben wir die Studie mit insgesamt 1000 Pädagogen und Lehrkräften zu 22.000 Kindern durchgeführt. Die Ergebnisse waren so extrem, dass ich mich zu einem Sachbuch entschieden habe, das für alle lesbar ist, nicht nur für ein kleines Fachpublikum. Das Buch ist ein Ergebnis dieser Studie und soll den Teilnehmern eine Stimme geben.
Mit der Generation Alpha wächst anscheinend eine Generation heran, die sich kein Leben ohne digitale Helfer für jede Lebenslage vorstellen kann. Die unglücklich, depressiv, ohne jede Empathie, die haltlos und unzufrieden ist. Wie konnte es soweit kommen?
Das ist natürlich etwas überspitzt ausgedrückt. Aber Fakt ist: Diese Überbehütung hat ein solches Ausmaß angenommen, dass es für die Entwicklung der Kinder ungesund ist. Eltern intervenieren viel zu schnell. Kinder lernen nicht mehr, mit unangenehmen Erfahrungen umzugehen, Frustration auszuhalten, sich zu konzentrieren. Und: je weniger ich als Kind mit anderen Kindern interagiere, desto weniger kann Empathie entstehen. Die Gewalt zwischen Kindern und Jugendlichen hat zwar abgenommen, aber wenn Gewalt entsteht, dann ohne jede Empathie. Selbst wenn der andere schon auf dem Boden liegt, wird nicht aufgehört.
Die wenigsten Eltern sehen ihre eigene Kindheit im Rückblick als nachahmenswert. Trotzdem raten Sie Eltern von heute, sich auf ihre eigene Kindheit zu besinnen…?
Damit meinte ich nicht, dass früher alles schön und harmonisch war, sondern verstehe es als Appell an Eltern, sich an Situationen zu erinnern, die schwierig waren und daran, wie sie es als Kind geschafft haben, diese zu meistern. Auch mal Langeweile zu haben, Konflikte ohne Elternhilfe zu lösen, Heimweh auszuhalten, allein in den Wald zu gehen und vieles mehr.
„Keine Elterngeneration vorher war so ängstlich und verunsichert und will alles perfekt machen“
Auch die bedürfnisorientierte Erziehung kommt bei Ihnen schlecht weg. Was ist daran ungünstig, Kinder auf Augenhöhe in Entscheidungen einzubeziehen?
Hier muss man unterscheiden! Viele Eltern erziehen nicht bedürfnisorientiert, sondern beziehen schon 3-jährige Kinder in Entscheidungen ein, quasi als Partner- oder Freundesersatz. Mit Fragen wie: Wohin wollen wir in den Urlaub fahren? Wie sollen wir dein Zimmer gestalten? Diese Begegnung ist für Kleinkinder nicht wirklich kindgerecht.
Noch nie sei eine Elterngeneration derart verunsichert gewesen. Bei jeder noch so kleinen Frage, würde diese das Internet konsultieren. Was ist daran so schlimm?
Nichts. Aber: Wie gehen wir mit der Flut von Informationen um? Und welche Algorithmen aktivieren wir durch unsere Suche? Die Frage ist doch auch: Wie hätten Sie denn ohne Internet entschieden? Nur mit Ihrem gesunden Menschenverstand und eventuell einer Rückfrage bei den eigenen Eltern oder Freunden. Keine Elterngeneration vorher war so ängstlich und verunsichert und will alles perfekt machen. Das Maximum aus dem Kind herausholen. Aber es ist immer noch ein Kind und kein Programm.
Wenn die Generation Alpha dann ins Berufsleben kommt, wird es erst richtig schwierig – und zwar für die Arbeitgeber. Diese müssten sich auf sehr anspruchsvolle junge Arbeitnehmer einstellen, die sich nur ungern zurechtweisen lassen und sehr selbstbewusste Gehaltsforderungen hätten. Aber ist es nicht an der Arbeitswelt, sich endlich zu verändern und auf die sich wandelnde Lebenswelt der Menschen einzustellen?
Natürlich muss sich die Arbeitswelt auf die Veränderungen der Gesellschaft einstellen. Aber: Hier kommt eine Generation ins Arbeitsleben, die nie oder nur selten Kritik gehört haben wird. Die immer nur gelobt wurde. Der sämtliche Hindernisse vorab aus dem Weg geräumt wurden. Jetzt kommen sie in einen Betrieb, eine Firma, und da clashen Welten aufeinander. Wenn 90 Prozent der jungen Auszubildenden rein ichbezogen agieren und bei jeder Kritik zusammenbrechen und beleidigt einfach wieder gehen – wie soll da eine Arbeitswelt noch funktionieren?
Was muss passieren, dass die Generation Alpha doch noch eine glückliche und selbständige Generation wird?
Sobald sich die Kinder in die Welt des Internets begeben, hört die Überbehütung schlagartig auf. Hier kennen sich Eltern nicht aus und für viele ist es wiederum zu anstrengend und fremd, sich in die Welt von Videospielen, TikTok und Instagram einzuarbeiten. Deshalb rate ich: lasst eure Kinder in der analogen Welt selbstständiger werden, lasst hier die Zügel locker. Und: Haltet kleine Kinder so lange es geht von der digitalen Welt fern, lasst sie echte, eigene Erfahrungen machen. Und dann: Begleitet und behütet sie in den unkalkulierbaren Weiten des Internets.
bw // Fotos: AdobeStock, Adrian Beck