„Unser Sohn Simon ist durch seine Doppelbelastung – er hat sowohl Down-Syndrom als auch Autismus – keine einfache Nummer. Er ist sehr darauf angewiesen, dass sein Alltag immer nach dem gleichen Muster und mit denselben vertrauten Personen verläuft. Veränderungen im Alltag sind für ihn sehr schwierig und kaum zu bewältigen. Das beginnt schon bei Kleinigkeiten, wenn sich ein Termin verschiebt oder etwas nicht wie angekündigt stattfindet … es kann sein, dass er dann eine Panikattacke bekommt. Er verletzt sich dann selbst oder wirft mit Gegenständen.
Unser großes Problem war und ist, dass Simons Autismus erst sehr spät diagnostiziert wurde. In den ersten Jahren wurden unsere Sorgen, dass er nicht nur das Down-Syndrom hat, sondern auch noch andere Beeinträchtigungen, von Ärzten und Fachleuten nie ernst genommen. Seine autistischen Züge wurden seinen Krankenhauserfahrungen der ersten Lebensjahre zugeschoben. Wir sind deshalb, da war Simon neun Jahre alt, für vier Wochen in eine spezielle Kinderklinik gegangen. Schon nach einer Woche stand die Diagnose fest: Simon ist Autist. Wir mussten dann nochmal zwei Jahre warten, bis wir einen Therapieplatz bekamen. Und hätte nicht zufällig das neue Autismus-Zentrum in Schriesheim eröffnet, dann würden wir jetzt immer noch warten. Seitdem Simon regelmäßig zur Therapie geht, ist das Zusammenleben mit ihm viel besser geworden. Er nimmt endlich Anteil an der Welt und findet auch in die Sprache. Damit er die vielen Reize der Umwelt filtern kann, muss er starke Medikamente nehmen. Als wir die Beipackzettel gelesen haben, war das für uns psychisch sehr belastend. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber Simon soll ja in der Welt zurechtkommen und die Welt mit ihm.
„Inklusion funktioniert nur durch Vorbilder“
Wir hatten also unser Leben in den letzten Jahren so gut es geht organisiert. Simon durfte als erstes Inklusionskind den normalen Kindergarten hier im Ort besuchen – allerdings mussten wir uns das hart erkämpfen und nur unter Androhung juristischer Schritte bekamen wir den Platz. Wir haben diese Möglichkeit nicht nur für Simon, sondern für alle anderen Familien erkämpft, die nach uns kamen. Heute ist es kein Problem mehr. Die Kinder dürfen hier im Ort in Kindergarten und Schule gehen. Wie soll Inklusion auch anders funktionieren? Heute geht Simon in eine Realschule und lernt dort gemeinsam mit den unterschiedlichsten Kindern. Behinderten und Begabten. Und dass er heute allein in der Schulmensa sein Essen bestellen, mit seinem „Chip“ bezahlen und anschließend wieder wegräumen kann, das verdankt er den anderen Kindern. Soziales Leben lernt man nur durch Vorbilder. Und die anderen Kinder wiederum profitieren genauso von ihm. Sie lernen, dass er anders ist und sich manchmal merkwürdig verhält, dass sie aber keine Angst vor ihm haben müssen. Sie gehen locker und selbstverständlich mit ihm um und packen ihn nicht in Watte. Kinder, die gemeinsam mit behinderten Kindern aufwachsen dürfen, werden auch später als Erwachsene einen ganz anderen Blick auf Menschen haben.
Damals haben wir auch unseren Verein „Wir DABEI!“ gegründet. Weil wir gemerkt haben, dass viele Eltern nicht die Kraft haben, so wie wir für ihre Kinder zu kämpfen. Sie sind erschöpft und mürbe von den vielen Auseinandersetzungen mit Behörden und Institutionen. „Der Lockdown hat uns kalt erwischt“ Doch obwohl wir als Familie so gut aufgestellt sind, hat uns der Lockdown kalt erwischt. Von heute auf morgen war ja nicht nur die Schule geschlossen, sondern das Autismus Zentrum war zu, die Therapien abgesagt, es durfte keine Betreuerin zu uns nachhause kommen. Wir waren plötzlich auf uns allein gestellt. Das Schlimmste an der sehr anstrengenden Situation war aber, dass wir es Simon nicht erklären konnten. Er konnte es einfach nicht verstehen, dass er seine Großeltern nicht mehr sehen darf, dass keine Schule stattfindet und vor allem: dass uns niemand mehr besuchen kommt. Das hat ihn erst ratlos, dann richtig sauer gemacht und ließ ihn dann verzweifeln. Simon hat immer wieder gefragt, was er denn falsch gemacht habe, dass keine seiner Betreuerinnen mehr käme … Er hat es komplett auf sich bezogen. Dieser Schmerz und diese Angst wirken bis heute in ihm. Wir haben uns emotional und kräftemäßig noch immer nicht vom ersten Lockdown erholt und jetzt kommt schon der zweite …
Simon hat durch den plötzlichen Wegfall seiner Therapien und Routinen einen großen Rückschritt in alte Verhaltensweisen gemacht. Er fing wieder an sich zu verletzen, hatte Panikattacken und große Verlustängste. Bis heute bekommt er panische Angst, wenn einer von uns das Haus verlässt. Er muss erst wieder darauf vertrauen, dass wir nicht für immer weg sind, sondern immer wieder zurückkommen. Als seine Betreuerin nach fünf Wochen das erste Mal wieder zu uns kommen durfte, konnte Simon nichts anderes sagen als: „Sind wir noch Freunde?“. Und das gefühlt hundertmal …“
Familie Doering aus Birkenau Reisen mit Simon, 15 Jahre alt
Protokoll: bw // Fotos: mschi