StadtLandKind im Interview mit Prof. Dr. Freia de Bock, Leiterin Querschnittsbereich Frühe Prävention und Gesundheitsförderung an der Universität Mannheim und Fachärztin für Kinderheilkunde.
Sehr geehrte Frau Prof. de Bock, in Deutschland sind fast 15 Prozent der Kinder, also jedes siebte Kind, übergewichtig.Das geht aus der aktuellen Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Jugendlichen und Kindern hervor. Stimmen diese Zahlen mit Ihrer Erfahrung überein?
Prof. Dr. Freia de Bock: Durchaus. Man muss aber dazu sagen, dass manchen Eltern gar nicht bewusst ist, dass ihr Kind übergewichtig ist. In ihrer Wahrnehmung ist ihr Kind genau richtig und sie bekommen nicht mit, dass der Babyspeck der Kleinkindzeit nicht bis zum Ende der Kindergartenzeit verschwindet. Zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr kommt es zum so genannten „adiposity rebound“. In dieser Phase sollte der BMI der Kinder deutlich sinken auf den tiefsten Wert, der im Laufe des Lebens erreicht wird. Kinder sollten also in dieser Phase deutlich schlanker sein als in der Baby- und Kleinkindzeit. Je früher dieser Punkt erreicht wird und je früher und schneller sie wieder zunehmen, umso wahrscheinlicher ist ein späteres Übergewicht. Für Eltern, deren BMI sich nicht oder kaum verändert, ist das schwierig wahrzunehmen. Ihre Kinder bleiben sich ja ähnlich … während also die öffentliche Wahrnehmung das Thema „übergewichtige Kinder“ immer stärker in den Fokus nimmt, fühlen sich Betroffene manchmal gar nicht angesprochen.
Angeblich spielt das soziale Umfeld, in dem die Kinder aufwachsen, die Hauptrolle in der Frage, wie gesund und schlank Kinder heute aufwachsen.
Es gibt nicht EINE Hauptrolle, es kommen immer viele Faktoren zusammen. 70 Prozent werden der Genetik zugeschrieben. Aber der genetische Einfluss ist nicht völlig unbeeinflussbar: In der frühen Zeit des Lebens, auch pränatal und in den ersten zwei Jahren, werden die genetisch definierten menschlichen Stoffwechselprozesse programmiert. Diese Programmierung kann einen kleinen Teil der genetischen Festlegung sozusagen aufheben. Also: wie sehr ein Gen im Laufe des Lebens in ein aktives Protein umgewandelt wird, wir sprechen hier von „Ablesen“, hängt auch von unserem frühen Lebensumfeld ab. Die anderen 30 Prozent der Ursachen werden der Umwelt zugeschrieben, der Umgebung. Diese ist auch beeinflusst vom Bildungshintergrund und dem sozialen Status, aber nicht nur. Bei Jugendlichen spielt die Peergroup eine große Rolle. Übergewicht ist ein Phänomen, das sich in sozialen Netzwerken clustert: Sind die anderen vielleicht auch übergewichtig, haben ein bestimmtes Essverhalten … und so weiter. Auch lokale Unterschiede müssen berücksichtigt werden: In sozial benachteiligten Quartieren ist das Vorkommen von Übergewicht bei Kindern höher. Armut ist und bleibt – wie Frau Prof. Kurth aus dem RKI das gesagt hat – das größte Gesundheitsrisiko für Kinder in Deutschland.
Weil sich sozial schlechter gestellte Familien auch schlechter ernähren?
Es betrifft nicht nur die individuellen Ernährungsgewohnheiten und das Wissen, sondern auch strukturelle Probleme: Das Nahrungsmittelangebot im jeweiligen Stadtteil, die Gestaltung der Lebensmittelpreise und die Platzierung von Lebensmitteln, die Bewegungsmöglichkeiten in der Nähe. Es ist komplex. Viele ärmere Familien leben in kleinen Stadtwohnungen, oft in der Nähe stark befahrener Straßen. Wo sollen Kinder sich da bewegen? Es kommen viele Faktoren zusammen: wenig Bewegungsmöglichkeiten, wenig Geld, um Hobbys zu fördern, und auch geringere Gesundheitskompetenz, wie man gesicherte Informationen zu Ernährung, Bewegung und Kindergesundheit bekommt. Dazu kommen immer mehr Bewegungskonkurrenten wie Fernseher und Handys.
Kann die Lösung des Problems hier die frühe Unterbringung in Kitas sein?
Studien haben ergeben, dass sich der frühe Kitabesuch positiv auf Sprachkompetenz und körperliche Koordinationsfähigkeit von Kindern auswirkt, und zwar deutlich stärker bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien. Hinsichtlich einer Entwicklung von Übergewicht kenne ich keine gesicherten wissenschaftlichen Ergebnisse.
Ein weiterer Grund, dass Kinder dick werden, wird der Flaschenernährung in den ersten Monaten zugesprochen. Müssen also Mütter, die nicht stillen können oder wollen, um die Figur ihrer Kinder fürchten?
Das Problem an diesen Untersuchungen: Stillen ist in den meisten Fällen eine Selbstselektion. Mütter, die ausschließlich und lange stillen, unterscheiden sich in allen Lebenseinstellungen von Müttern, die nur kurz oder nicht stillen. Oft haben sie einen ressourcenreicheren Hintergrund, sie achten mehr auf eine möglichst naturnahe Lebensweise. Man muss vorsichtig sein, die gesamte Reduktion des Übergewichtsrisikos nur auf Muttermilch versus Formulanahrung zurückzuführen. Da die Unterschiede jedoch sehr groß sind, bleibt trotzdem die Botschaft, dass zur Prävention von Übergewicht stark zum Stillen geraten werden muss. Muttermilch hat viel weniger Protein als industriell hergestellte Formulanahrung. Mit einem höheren Proteingehalt verändert sich auch das Zuckerangebot des Körpers, was wiederum den Stoffwechsel und die Appetitsteuerung beeinflusst.*
Während die Extra-Kilos bei Kindern in Deutschland seit einigen Jahren auf einem hohen Niveau stagnieren, nimmt die extreme Adipositas massiv zu. Woran liegt das?
Die Gründe sind sicherlich vielschichtig. Ein Baustein könnte sein, dass Adipositas ein Krankheitsbild ist, das noch stärker sozial determiniert ist als Übergewicht. Die sozialen Unterschiede für Kinder haben sich in Deutschland in den letzten Jahren weiter vergrößert, mehr Kinder leben in Armut und das führt automatisch zu häufigerem Vorkommen von extremem Übergewicht. In sozial benachteiligten Familien clustern sich sehr viele Risiken. Es wird nicht gestillt, es wird oftmals früh hochkalorisch ernährt, oft sind die Eltern ungünstige Ernährungsvorbilder, es gibt psychische Belastungen und Stress, da kommt einfach alles zusammen.
Warum ist Adipositas bei Kindern so gefährlich?
Problematisch ist nicht nur die Ausgrenzung in Kindergarten und Schule, adipöse junge Erwachsene leiden oft schon unter diabetischen Stoffwechsellagen, die über den Lebensverlauf hin, früh zu Problemen mit Durchblutung und z.B. zu Erblindung führen. Ganz zu schweigen von Problemen am Bewegungsapparat, am Rücken und an den Fußgelenken. Dazu kommt: Adipöse Kinder und Jugendliche haben nicht die gleichen Chancen. Die Bildungsverluste und Teilhabeverluste sind gravierend!
Wie lassen sich diese Eltern erreichen?
Durchgesetzt werden müsste z.B. eine gesetzlich verpflichtende Kennzeichnung von Lebensmitteln und das Verbot von auf Kindern gerichtete Werbung im Fernsehen und in sozialen Medien. Sie beeinflusst nachweislich die Bevorzugung, den Kauf und Verzehr von dickmachenden Produkten, wie Cola, Chips und süßen Snacks. Noch wirksamer wäre beispielsweise eine andere Preisgestaltung: Gesunde Lebensmittel müssten günstiger, hochkalorische teurer werden.
Starkes Übergewicht ist nicht nur für die Kinder traumatisch, es kostet das Gesundheitssystem auch richtig Geld.
Ja, vor allem in ein paar Jahrzehnten wird es richtig Geld kosten. Und das ist Teil des Problems: Wenn die Kosten weit in der Zukunft liegen, dann handelt man nicht so entschieden wie wenn sie morgen entstehen. Aus Public Health- Sicht sollten jedoch dringend die übergewichtsfördernden Verhältnisse durch gesetzliche Maßnahmen verbessert werden. Eine Studie in den USA hat aufgezeigt, dass die Lebenserwartung erstmals seit vielen Jahrzehnten vor allem durch die Zunahme von Übergewicht bei Kindern drastisch sinken könnte.**
bw // Foto: privat