In Heidelberg hat sich eine Initiative gegründet, die Jung und Alt zusammenbringen möchte. Es geht um „echte Nachbarschaftshilfe im Alltag“, sagt Organisatorin Katja Senn. Und es geht um noch viel mehr: „Wir wollen das Denken verändern.“ Um weiter wachsen zu können, werden Mitstreiter für „Tante Inge“ gesucht.
Sie heißen Günther, Elfriede oder eben Inge. Früher haben sie aktiv Fußball gespielt, gingen gerne zu Tanzabenden, ins Kino oder ins Café. Sie haben Liebeskummer erlebt und Verluste. Und sie wissen, was Freude macht. Heute verbringen sie ihre Tage womöglich allein zu Hause oder in Seniorenheimen – wobei sie eigentlich noch Wünsche haben, die sich aber alleine nicht erfüllen lassen, weil es zu zweit einfach viel schöner ist. Canasta spielen, die alten Platten hören, einen Film ansehen oder einfach nur reden. „Unser Projekt möchte älteren Menschen Gehör verschaffen“, erklärt Katja Senn, Organisatorin der Heidelberger Initiative. Im besten Fall sollen echte Freundschaften zwischen Jung und Alt entstehen. „Wir sprechen dabei von Tandems; man erlebt gemeinsam etwas. Beide Seiten haben etwas davon.“ Diese Tandems entstehen zu lassen, ist aber nicht einfach. „Es ist schwierig, Menschen zusammenzubringen. Die Grundvoraussetzung ist daher, sein Verhalten zu ändern. Die Menschen müssen sich trauen, sich überwinden und an dem Projekt beteiligen.“
„Es geht darum, das Mitmenschliche zu triggern“
Seinen Ursprung hat das Projekt in Berlin. Vor einigen Jahren besuchte die Gründerin der Initiative, Kerstin Müller, eine Verwandte in einem Seniorenheim, ihre Großtante Inge, die Namensgeberin der später gegründeten Bewegung. Sie merkte schnell, dass Einsamkeit verhindert, Wünsche zu erfüllen. Sie rief auf facebook dazu auf, sich aufzuraffen und mitzumachen. „Es geht im Kern darum, dass man nicht nur die Wünsche der Älteren erfüllt, sondern auch von den Älteren lernen kann“, erklärt Katja Senn. Schnell fanden sich Mitstreiter bei gemeinsamen Veranstaltungen für Jung und Alt. Auch Katja Senn wurde in Berlin auf „Tante Inge“ aufmerksam, engagierte sich, bereitete Projekte vor und brachte die Idee nach ihrem Umzug schließlich mit nach Heidelberg. In Berlin fand Katja Senn selbst zwar keine eigene Tante Inge – „aber ich habe viele schöne Unterhaltungen geführt“, sagt sie. Seit Herbst 2016 wird die Idee in der Universitätsstadt weitergetragen. Um möglichst viele Helfer zu finden, suchte sich Katja Senn, die für den strategischen Einkauf am Universitätsklinikum zuständig ist, zunächst bei der Fachschaft Medizin Heidelberg Unterstützung – mit Erfolg. So läuft die Initiative unter dem Dach der Fachschaft; über 20 Studenten engagieren sich derzeit aktiv für dieses Projekt wobei
sich der Personenkreis der Helfenden in Zukunft nicht nur auf Studenten beschränken soll. Außerdem soll der Vereinssitz noch dieses Jahr von Berlin nach Heidelberg verlegt werden. Dann können auch Spendengelder entgegengenommen werden, derzeit wird die Initiative aus Mitteln der gesetzlichen Pflegeversicherung unterstützt.
Einen Namen hat sich die Initiative schon bereits machen können: „Tante Inge“ ist Preisträger des „Großen Präventionspreises 2017“ des Landes Baden-Württemberg.
„Tante Inge“ versteht sich nicht als Besuchsdienst von Ehrenamtlichen und auch nicht nur als Gruppenaktion für rüstige Senioren, sondern als „echte Nachbarschaftshilfe im Alltag“. Was bedeutet das? Katja Senn erklärt: „Wir möchten weitergehen und das Mitmenschliche triggern. Es geht um Freundschaften. Wir wollen die Eigeninitiative ansprechen und das Alltägliche stärken.“ Wie das konkret aussehen soll? In einem ersten Schritt sollte man vor die eigene Haustür schauen. „Jeder von uns kennt ältere Menschen ganz in der Nähe, in der Familie, in der Nachbarschaft oder sogar im eigenen Wohnhaus. Wenn man die Augen öfter und bewusst für diese Menschen öffnet, sehen wir vielleicht, wie es ihnen geht.“ Den Machern von „Tante Inge“ geht es nicht nur darum, Wünsche zu erfüllen – die auch „einmal Bus fahren“ oder eine Schifffahrt auf dem Neckar sein können. „Es geht darum, gegenseitiges Verständnis zu generieren und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Man kann einen älteren Menschen als Freund finden. Man kann voneinander lernen, beide profitieren voneinander – jeder sollte eine Tante Inge haben.“
„Einsamkeit ist ein Tabuthema“
Die noch kleine Initiative geht mutig voran, traut sich, groß zu träumen und packt die großen Themen an. „Es geht um die Grundfrage: Wie möchte ich leben, wenn ich selbst 90 bin? Wir wollen das Denken verändern, denn man sollte sich auch über das eigene Altern Gedanken machen“, erklärt Katja Senn. „Tante Inge“ ist daher auch als gesellschaftliches Projekt zu sehen, denn es spricht ganz offenherzig über Einsamkeit. „Es ist ein Tabuthema, gerade die ältere Generation spricht nicht gerne darüber. Wir sehen dieses Problem und wollen alles dafür tun, damit es bergauf geht. Wir wollen die Gemeinschaft stärken. Unser Ziel ist es, dass es normal ist, dass man sich gegenseitig unterstützt.“ Sie werben mit dem Hashtag #keinsamkeit und erklären auf ihrer facebook-Seite: „Wie entgeht man der Einsamkeit im Alter und in jungen Jahren? Beide Generationen zusammenbringen,und der Einsamkeit mit gemeinsamer Zeit trotzen.“ Gemeinsame Veranstaltungen mit Kooperationspartnern wie Seniorenheimen im Heidelberger Raum dienen zum Kennenlernen zwischen „Tanten“, „Onkeln“ und eben den „Enkeln“, wie die jungen Tandempartner genannt werden. „Mit gemeinsamen Veranstaltungen wollen wir einen Schubs geben, es sind Findungsprojekte. Die Freundschaften entwickeln sich dann aber von ganz allein“, erklärt Katja Senn.
Tante Inge zockt
Und die Veranstaltungen sind alles andere verstaubt. So gab es in Heidelberg bereits Cocktailnachmittage, französische Rock-Chansons oder auch Kinofeeling im Rahmen des Europäischen Filmfestivals der Generationen. Unter Titeln wie „Tante Inge zockt“, „spielt“ oder „tanzt“ werden außerdem Spielenachmittage am Tisch und im Freien, wie Boule oder Tischtennis, sowie Tanznachmittage angeboten. Damit sich die Gruppe in Heidelberg aufbauen kann, werden weitere Enkel gesucht, die sich an diesem Projekt beteiligen möchten. „Unsere Herausforderung ist es, an die alleinstehenden Senioren heranzukommen.“ Das könnte mithilfe von aufgestellten Briefkästen geschehen. Mit vorgefertigten Steckbriefen möchte sich die Initiative vorstellen und ganz konkret nach den Wünschen der Senioren fragen, die die ausgefüllten Zettel in die Briefkästen einwerfen. Das „Tante Inge“-Team hofft, dass sich auf diese Weise Senioren melden, die sich über Freundschaften freuen. So ist „Tante Inge“ viel mehr als ein Besuch zum Kaffee, sondern eine Bereicherung für alle Beteiligten – egal, ob sie Günther, Elfriede oder eben Inge heißen.
awe // Fotos: Istock, Tante-Inge (privat)
INFO:
Das Heidelberger Team trifft sich alle 14 Tage am Dienstagabend (in den
geraden Kalenderwochen) von 19 bis 20 Uhr, um gemeinsam zu planen und
Tandems zwischen Jung und Alt zu vermitteln. Jeder ist willkommen, um
vorherige Anmeldung per E-Mail wird gebeten. Treffpunkt ist im Seminarraum
18a (I. OG), INF 306 (Im Neuenheimer Feld). Mehr unter: tante-inge.org