In Deutschland leben rund 800.000 Kinder, die ein Elternteil oder beide Eltern verloren haben. Es gibt wenige Themen, die Eltern größere Angst machen, als dieses. Was geschieht mit meinen Kindern, wenn ich sterbe? Der Tod hält sich an keine Regeln und Gesetze, er nimmt keine Rücksicht. Aus dieser Angst heraus reden Eltern nur in Ausnahmefällen über den Tod. Wenn er dann eine Familie triff, so ist sie meistens völlig unvorbereitet. Wie kann man Kindern den Tod erklären? Wie gehen Kinder überhaupt mit Trauer um? Oft funktionieren sie nach außen hin weiter, als sei nichts geschehen. Dabei fühlen sie sich von der Veränderung existenziell bedroht.
Dass dies kein einfaches Thema werden würde, wurde uns schnell klar. Auf unsere Ankündigung hin erreichte die Redaktion wir zahlreiche Nachrichten und viele, viele weinende Emoticons. Aber auch: Fotos von verstorbenen Kindern. Ein winziges, blondes Baby, das, aufgebahrt, zu schlafen scheint und daneben der ältere Bruder, selber noch ein Kleinkind, der ihm sanft das Gesicht streichelt. Das ist schwer zu ertragen. Trotzdem, es ist ein wichtiges Thema. Denn dass Kinder anderes trauern als Erwachsene und dass sie das Trauern erst „lernen“ müssen, dass sie aber trauern dürfen und sollen und dafür einen Raum und Begleitung brauchen, dringt erst langsam in das Bewusstsein der Öffentlichkeit.
„Eigentlich ist Trauer ein ganz normales Gefühl“
Jüngere Kinder sind noch nicht in der Lage, die Komplexität des Todes zu verstehen. Sie reagieren oft erst einmal sehr sachlich auf die Nachricht. Aber irgendwann fällt auf, dass sie warten … und dann suchen sie nach dem verstorbenen Familienmitglied. Kleine Kinder fragen immer wieder nach: „Wann kommt er zurück?“ Oder: „Wann wacht sie wieder auf?“ Deshalb ist es so wichtig, mit Kindern in klaren Worten über den Tod zu sprechen. Ehrlich zu antworten und kindgerecht, aber ohne jeden Euphemismus. Kinder haben ein Recht darauf, genau zu erfahren, was passiert ist. Auch bei einem Suizid. Schreckliche Details sollten Eltern weglassen, aber keinesfalls lügen. Wenn ein naher Verwandter stirbt, dann ist dieser nicht einfach „eingeschlafen“. Oder „weggegangen.“ Oder „heimgegangen“. Diese Formulierungen können kleinen Kindern große Angst machen. Oder Hoffnung. Denn, wer einschläft, wacht ja wieder auf. Und wer weggeht, kommt irgendwann zurück.
Ältere Kinder ab circa acht Jahren realisieren, was es bedeutet tot zu sein. Dass der Tod für immer ist. Stirbt ein Elternteil, so glauben sie in diesem Alter häufig, in irgendeiner Weise schuld zu sein. „Ich wünschte, wir hätten nicht so oft gestritten“, schreiben sie in einem letzten Brief an das Elternteil. Oder: „Entschuldige, dass ich so wütend war.“
„Trauer ist Schwerstarbeit für die Seele“, erklärt die Trauerbegleiterin Tina Rülke. Wir haben uns mit ihr zum Gespräch verabredet. Seit zehn Jahren arbeitet die Sozialpädagogin und Kunsttherapeutin als Trauerbegleiterin für Kinder und Jugendliche in Heidelberg. Einmal im Monat für einen Zeitraum von eineinhalb Jahren treffen sich feste Gruppen von bis zu zehn Kindern zwischen sechs und 13 Jahren. Um zu reden, aber auch zu malen, zu basteln, Ausflüge zu machen. Um wütend zu sein … und auch, um zu lachen. Am Anfang stellen sich die Kinder vor. Sagen ihre Namen und wer gestorben ist. Wer möchte erzählt von dem Verstorbenen und auch darüber, wie der Vater/die Mutter gestorben ist. „In den meisten Fällen war eine Krebserkrankung
der Grund für den Verlust“, erzählt Tina Rülke. Schwieriger wird die Trauerarbeit, wenn Kinder sich nicht verabschieden konnten. Wenn der Tod unvermittelt und plötzlich kam. Und es gibt auch noch schlimmere Schicksale. „Wenn sich ein Elternteil für einen Suizid entscheidet und das Kind vielleicht sogar dabei war, dann reicht der Besuch einer Trauergruppe oft nicht aus. Diese Kinder sind schwer traumatisiert und brauchen therapeutische Begleitung. Und vor diesen grausamen Berichten müssen die anderen Kinder der Gruppe zudem geschützt werden“, erklärt Rülke. „Aber eigentlich ist Trauer ein ganz normales Gefühl. Da muss niemand gleich zum Arzt. Man braucht nur die Möglichkeit und einen Ort, die Trauer auszuleben. Und im Laufe der Zeit zu spüren: Ich komme da wieder raus. Aus der Trauer.“
Im Verlauf dieses „Trauerarbeit“ werden Erinnerungskästen gebastelt und gefüllt, um die schönen Erinnerung an den Verstorbenen wachzuhalten. Und hier gehören auch die unschönen Erinnerungen hin, dass man oft wütend war und sich vielleicht täglich wegen der Hausaufgaben gestritten hat. Die Scham darüber und die Schuldgefühle dürfen in der Gruppe ebenfalls besprochen werden. Diese Offenheit ist ganz wichtig so Rülke. „Die Kinder sprechen hier ganz frei über viele Details. Das können sie ja sonst niemandem einfach so erzählen …“
„Ich wusste immer, dass Mama stirbt.“
„Ich wusste immer, dass Mama stirbt. Sie wurde kurz nach meiner Geburt krank.“ Julius (*Name von der Redaktion geändert) sitzt blass und schmal bei sich zu hause an einem großen Esstisch. Neben sich auf der Bank die schnurrende Familienkatze, die ihn anstupst. Julius Vater hat uns gerade Kaffee gekocht und ist dann ins Arbeitszimmer nebenan gegangen. Julius war einverstanden, sich mit uns zu unterhalten. Seit einem Jahr besucht er die Trauergruppe von Tina Rülke. Jetzt ist sie fast vorbei. „Traurig bin ich immer noch“, sagt er ernst. „Aber es ist nicht mehr so schlimm.“ Julius Mutter hatte Brustkrebs. „Letztes Jahr in den Sommerferien ist Mama gestorben, als ich im Zeltlager war“, erzählt er. „Papa hat mich dann zur Beerdigung abgeholt. Manchmal habe ich Angst, zu vergessen, wie Mama aussah. Dann schaue ich mir schnell ein Foto an. Am schönsten war es, als wir alle zusammen eine Kreuzfahrt gemacht haben. Da ging es ihr nämlich richtig gut.“ Die Trauer kommt bei Kindern in Julius Alter wie in Wellen, in Schüben. Sie geht und dann ist sie plötzlich wieder da. „Eltern sind oft irritiert vom Verhalten der Kinder“, erzählt Tina Rülke. Sie fragen sich: Trauern die Kinder überhaupt? Vor allem ältere Kinder versuchen in der Zeit nach einer Katastrophe erst einmal tapfer zu sein, um ihre Eltern nicht noch zusätzlich zu belasten. Diese Beherrschtheit führt aber dazu, dass ihre Trauer oft nicht wahrgenommen und beachtet wird. Das wiederum kann dazu führen, dass sie in der Schule unkonzentriert werden und Lernstörungen entwickeln. Durch Verhaltensauffälligkeiten wie Essstörungen oder Drogenkonsum machen diese Kinder und Jugendlichen dann unbewusst auf ihre Not aufmerksam.
„Anderes Thema, bitte“
Generell unterscheidet man in der Zeit der Trauer vier Phasen: die Schockphase als erste Reaktion. Darauf folgt das „Gefühlschaos“, Wut, Angst, Verzweiflung und Schuldgefühle. Ist diese Phase überstanden, kommt das eigentliche Abschiednehmen durch Erinnerung und Rückzug. Trauernde Kinder erleben diese Phase besonders intensiv. Als letzte Phase erleben Trauernde die Neuorientierung. Das bedeutet nicht, dass der Verstorbene vergessen wird, sondern dass er verinnerlicht wurde und so Teil des Lebens bleibt. „In der Schule haben mich die anderen richtig genervt, als Mama gestorben ist“, erzählt Julius. „Sie haben alle ständig gesagt: ‚Du Armer‘! Und: „Ich würde ja nur noch weinen, wenn meine Mama tot wäre.“ Darüber habe ich mich sehr geärgert. Woher wollen die denn wissen, wie das ist? Ich habe dann immer gesagt: ‚Anderes Thema, bitte‘ und dann haben sie aufgehört.“
„Es ist für Kinder wichtig, auch trauerfreie Räume zu haben“, erklärt Tina Rülke. „Sie wollen nicht ununterbrochen an ihren Verlust erinnert werden.“ Julius Gruppe ist bald zu Ende. Manche Kinder entscheiden sich vielleicht, dafür, in der nächsten Gruppe wieder dabei zu sein, andere Kinder sagen: Jetzt ist es erstmal gut. „Das Wichtigste an einer Trauergruppe für Kinder ist, ihnen das Gefühl zu vermitteln: Du bist nicht mehr allein. Denn, alle anderen hier haben auch etwas Ähnliches erlebt und verstehen, wovon du sprichst“, erklärt Rülke. „Diese Offenheit und Lebendigkeit der Kinder mitzuerleben, ist ein großes Geschenk.“
„Ich bin froh, dass Mamas Schmerzen jetzt weg sind“, sagt Julius bevor wir uns verabschieden. „Aber die ganze Sache ist ein bisschen unfair. Ich hätte gern noch mehr mit ihr geredet. Und am liebsten hätte ich sie behalten.“
bw // Foto: pixabay; die Brief an ihre verstorbene Mutter wurde von einer Teilnehmerin der Trauergruppe Heidelberg gemalt und geschrieben.