Bei unserem ersten Besuch auf der Station Kinderheilkunde III war es hier ganz still. Niemand war zu sehen, während wir auf der Suche nach einem Ansprechpartner durch die Station eilten und in die offenen Zimmer spähten. „Zwei kleine Wölfe zieh’n des Nachts im Dunkeln, man hört den einen zu dem anderen munkeln …“ – zart dringt eine Melodie aus einem der Zimmer. Eine Mutter sitzt mit ihren Zwillingen am Fenster und schaut in den Nieselregen. Die zwei Babys schauen ihre Mutter an, hören gebannt zu.
„Jaaaaaaa!“, wir zucken zusammen. Die neunjährige Katharina* springt auf. „Wie schöööön, dass du da bist.“ Katharinas Stimme tönt laut und kräftig durch das helle Einzelzimmer im 3. Stock der Heidelberger Kinderklinik. Sie kriegt sich gar nicht mehr ein und springt fröhlich auf dem Bett auf und ab. Der Apparat hinter ihr piepst erschrocken und die mit ihrer Vene verbundenen Schläuche beben. Das Ziel von Katharinas Freude ist eine Dame im gestreiften Shirt, die gerade das
Krankenzimmer betreten hat. Stefanie Adam lacht über das ganze Gesicht, während sie Katharina begrüßt. Sie ist eine der Lehrerinnen hier, Leiterin des
Projektes „Fit für die Schule“. Sie organisiert den Schulstoff und die Hausaufgaben der Kinder, die stationär aufgenommen werden. Aber heute ist sie hier, um mit Katharina zu basteln.
„Die beiden haben schon die schönsten Kunstwerke gezaubert“, schwärmt Johanna, Katharinas Mutter. Die schmale, fröhliche Anfang 40erin kommt seit acht Jahren mit Katharina nach Heidelberg. „Zum Glück haben wir es nicht weit“, sagt sie. „Mama, geht mal raus“, fordert das Mädchen. Sie möchte mit Stefanie Adam „geheim“ besprechen, was sie morgen mit ihr basteln wird. Eine Überraschung soll es werden, für Mamas Geburtstag.
Wir nutzen die Möglichkeit, um auf dem Flur die Fragen zu stellen, die wir uns vor dem Mädchen nicht zu fragen getraut haben. Sie kommt uns so munter vor und so fröhlich. So … gesund. „Sie hat einen unglaublichen Willen, sie ist eine Kämpferin“, stimmt ihre Mutter zu. „Auch deshalb haben wir noch Hoffnung. Denn eigentlich haben wir nicht daran geglaubt, diesen Sommer noch gemeinsam zu erleben. Und jetzt machen wir sogar schon wieder ganz vorsichtig Pläne für Weihnachten.“
Katharina hat Blutkrebs. Eine aggressive Form der akuten myeloischen Leukämie. Unheilbar, hieß es. „Bisher haben sich immer wieder Zauberschubladen für uns aufgetan“, erzählt Johanna. „Es ging bisher immer irgendwie weiter. Wir sind inzwischen Stammkunden hier auf der Station. Es ist wie eine zweite Familie für uns.“ Unser Gespräch wird immer wieder unterbrochen, weil Johanna alte Bekannte begrüßt. Eltern, die mit ihren kleinen, blassen Kindern auf die Station kommen. Inzwischen ist hier richtig viel los. Die Musiktherapeutin Christiane Hillebrenner fragt rum, ob jemand Zeit und Lust auf eine Stunde Musik hat,
Mitarbeiter teilen Kaffee und andere Getränke an die wartenden Eltern aus. Überall wuseln Kinder durch die Gänge, Babys versuchen zu krabbeln, Jugendliche
sitzen mit Mundschutz und Smartphone auf den Bänken. Laut geht es zu und so lebendig.
2000 Kinder erkranken jährlich an Krebs – weltweit sind es 250 000. In Deutschland erkrankt eines von 470 Kindern. Krebs ist die zweithäufigste Todesursache bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
„20 bis 25 Prozent können nicht geheilt werden, erklärt uns der Ärztliche Direktor der Kinderklinik, Prof. Dr. med. Andreas Kulozik. „Er ist soooo toll“, wird Katharina später von ihm schwärmen. „Er ist mein Freund. Ich werde später auch Arzt. Dann sind wir Kollegen, das haben wir abgemacht. Er gibt dann die Spritzen und ich verteile Süßigkeiten.“ Die Mutter lacht und erzählt: „Früher wollte Katharina ‚Krankenschwesterin‘ werden. Aber irgendwann hat sie gesagt: ‚Das kann ich schon alles!‘, sie hat ja inzwischen viel Erfahrung mit Spritzen, mit Katheter legen und waschen.“
Und weiß Katharina, wie es um sie steht? Dass es unwahrscheinlich ist, dass sie jemals Medizin studieren wird? „Sie weiß, dass es schlecht aussieht“, sagt ihre Mutter. „Auch ihre drei Geschwister wissen es. Wir versuchen aber, nicht die ganze Zeit an die Krankheit zu denken. Wir versuchen, unser normales Leben zu
leben, den Familienalltag. Wir schaffen Beständigkeit. Machen Ausflüge und wunderschöne Ferien.“
Alles begann mit einer rauen Stelle auf der Stirn
Alles begann, als das hübsche dunkelhaarige Mädchen elf Monate alt war. Die Mutter bemerkte eine raue Erhebung auf ihrer Stirn. Wie ein entzündeter Mückenstich. Nicht wirklich beunruhigend, und doch gab sich die Mutter mit der Diagnose des Kinderarztes nicht zufrieden. Sie hatte keine Mücken bemerkt. Die in der Kinderklinik gestellte Diagnose Leukämie zog der Familie „kurz den Boden unter den Füßen weg“. Jedes Mal wieder, wenn die Eltern bei Katharina einen Tumor finden. Am Oberschenkel, am Schienbein, an der Brust. Denn das ist dann jedes Mal erneut das Zeichen: die Leukämie ist zurück. „Knubbel“ nennt Katharina sie und zeigt ihre Narben. „Ich habe drei schöne Narben und eine richtig hässliche.“
Zweimal hat das Mädchen bisher eine Stammzellentransplantation bekommen. Die erste von ihrer Mutter, die zweite von einem Spender aus Mannheim. Beide
zeigten nicht den gewünschten Erfolg. Einen dritten Versuch wird es nicht geben. Katharinas Körper würde es nicht verkraften. Ausprobiert haben die Ärzte die unterschiedlichsten Therapien, verbunden mit großer Hoffnung – für alle Beteiligten. Operationen, Strahlentherapie, Chemotherapie und Medikamente, deren Heftigkeit nicht nur den Krebs bekämpft, sondern den gesamten kleinen Körper großen Belastungen aussetzt.
Vier Wochen musste Katharina einmal Tag und Nacht den „Medikamenten-Rucksack“ auf dem Rücken tragen, ununterbrochen flossen Medikamente in ihre Venen, in der Schule, im Bad, nachts im Bett. Nach jeder Therapie, nach jeder Operation dachten die Eltern: jetzt haben wir es geschafft. Einmal blieb Katharina zwei Jahre ohne Symptome und alle Beteiligten erlaubten sich vorsichtig echte Hoffnung auf eine gute Prognose. Doch dann entdeckte die Mutter erneut einen kleinen Tumor am Bein der Tochter. Und irgendwann vertrug Katharinas Körper die Medikamente nicht mehr. „Eines der Mittel, das immer gut angeschlagen
hatte, brachte sie beim letzten Mal direkt auf die Intensivstation“, erzählt Johanna.
Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff Leukämie „weißes Blut“. Das Knochenmark produziert unkontrolliert weiße Blutkörperchen. Durch die hohe Zahl entarteter und damit nicht funktionstüchtiger Zellen, werden die gesunden anderen Blutzellen quasi erdrückt. „Warum ein Kind Krebs bekommt, kann niemand
wirklich beantworten, erklärt Dr. Kulozik. „Kinder bekommen komplett andere Formen dieser Krankheit als Erwachsene. Dass sie erkranken, hat also nicht mit äußeren Einflüssen wie Ernährung oder Rauchen zu tun, es ist eine genetische Veränderung, die bereits im embryonalen Zustand angelegt wird.“ Aktuell probieren die Ärzte an Katharina eine von der Uni Tübingen speziell für sie und speziell für ihre Art Leukämie entwickelten Impfstoff aus. Alle vier Wochen bekommt die Neunjährige in Heidelberg diesen Impfstoff in den Oberarm unter die Haut injiziert. Sofort bildet sich eine große Blase. „Katharina hat jedes Mal wieder große Schmerzen“, erzählt Johanna. „Sie schreit wie verrückt. Auch die Schmerzen, die sie bei der, Stammzelltransplantationen aushalten musste, können wir uns nur vorstellen. Aber Katharina wollte trotzdem keine Vollnarkose. Sie hatte Angst vor dem Einschlafen.“
Und wenn alles nicht gereicht hat? Wenn nichts mehr wirkt?
Die Mutter überlegt. „Dann wissen wir, dass wir alles versucht, dass wir alles gegeben haben. Wir müssen dieses Schicksal dann annehmen. Denn irgendwann kommt der Punkt, da überlegt man sich: Was soll man noch alles in diesen kleinen Körper hineinpumpen? Irgendwann geht einfach nichts mehr. Aber bis dahin freuen wir uns über jeden weiteren gemeinsamen Tag.“
bw // Foto: istock
*(Dass wir die Namen ändern, war die einzige Bitte der Familie, bevor sie sich mit uns über die Erkrankung ihrer Tochter in aller Offenheit unterhalten würde. Den Namen Katharina hat sich das Mädchen – nach einigen Überlegungen – für diesen Text ausgesucht)
Aktualisierung, Februar, 2019: Katharina geht es gut!