Nora Imlau ist und Autorin für Elternratgeber wie zum Beispiel den im GU Verlag erschienenen „Das Geheimnis zufriedener Babys“ geschrieben. Sie vertritt den Erziehungsansatz des Attachment Parenting, der auch dank ihrem Engagement in Deutschland mittlerweile bestens bekannt ist. StadtLandKind-Autorin Jule Leger sprachen mit ihr über die Hintergründe dieser pädagogischen Lehre.
Liebe Frau Imlau, Sie haben das Attachment Parenting (die bedürfnisorientierte Erziehung) sozusagen mit nach Deutschland gebracht. Wie und wo sind Sie denn auf diesen Erziehungsansatz gestoßen? Erzählen Sie doch mal…
Nora Imlau (lacht): Da muss ich ein bisschen weiter ausholen! Ich bin schon früh durch meine eigenen Eltern geprägt worden, die beide als Lehrer an einem reformpädagogischen Internat in Süddeutschland arbeiteten. Die Grundidee, dass man Kindern mit Respekt und auf gleicher Augenhöhe begegnet, die
habe ich also sozusagen bereits mit der Muttermilch eingesogen! Später dann machte ich während meines Studiums ein Auslandsjahr in Kanada. Dort wurde ich an der Universität in meinem Pädagogikseminar erstmals mit dem Thema „Attachment Parenting“ konfrontiert, das in Kanada – praktisch zehn Jahre bevor es hier Fuß fasste – bereits als neue Form von Erziehung diskutiert wurde.
Und das hat Sie dann gleich begeistert?
Ja! Ich hatte damals zwar noch gar keine eigenen Kinder, habe mir aber trotzdem so einiges angelesen – allein aus wissenschaftlichem Interesse. Mir erschien diese Pädagogik so viel liebevoller, so viel respektvoller als all dass, was ich aus Deutschland kannte. Als ich dann schwanger war, machte ich Fleißarbeit – ich wollte mich gewissenhaft auf meine neue Aufgabe als Mutter vorbereiten. Ich habe viel recherchiert und stieß immer wieder auf Literatur, die von Kindern
als Tyrannen sprach und ein eher negatives Kinderbild zeichnete. Das bestärkte mich darin, dass ich für mich in Attachment Parenting das geeignete Gegenmodell sah – ich hatte recht schnell ein Bild im Kopf wie ich unser Kind behandeln wollte. Und was soll ich sagen? Ich erlebte die entspannteste Babyzeit schlechthin mit
unserer ersten Tochter!
Sie handelten nach den sieben Säulen, die der Begründer William Sears für das Attachment Parenting nennt…
Ja, das stimmt. Ich stillte nach Bedarf, ließ die Kleine in unserem Bett schlafen, trug sie so viel am Körper wie möglich, ging auf all ihre Bedürfnisse ein. Aber ich möchte da gar keine Religion draus machen! Jeder muss für sich schauen, was passt und wie es umsetzbar ist – nicht umsonst weist Sears immer wieder darauf hin, dass die Balance zwischen den Bedürfnissen von Eltern und Kind eine wichtige Säule in seinem Konzept darstellt.
Und was bedeutet für Sie dann Attachment Parenting konkret?
Für mich ist Attachment Parenting ein Gegenmodell zu behavioristischen Erziehungsmethoden, die immer davon ausgehen, das Kind so früh als irgend möglich zur Selbstständigkeit zu erziehen. Attachment Parenting heißt: Keine Angst davor zu haben, sein Baby zu verwöhnen und jederzeit auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen.
Der Weg zur totalen Selbstständigkeit führt zwangsläufig über die totale Unselbstständigkeit. Außerdem gestehe ich meinem Kind körperliche Nähe zu. Ich gehe davon aus, dass alle kindlichen Bedürfnisse ihren Wert haben und dass man durch körperliche Nähe eine innige seelische Bindung erreicht. Das heißt: Ich stille, wenn das Baby das möchte, ich trage es so viel als möglich an meinem Körper und lasse es nachts bei mir schlafen. Meine Überzeugung ist: Der Weg zur totalen Selbstständigkeit führt zwangsläufig über die totale Unselbstständigkeit! Attachment Parenting betrachtet das Kind nicht als Feind, der einen ärgern will, sondern möchte das Kind im Besten verstehen – der Job der Eltern ist es, dem Kind zu helfen, auf seine Bedürfnisse zu reagieren und sie nicht zu ignorieren.
Mir als fauler Bauchmensch kommt all das übrigens als das Normalste der Welt vor. Warum braucht es diese Bewegung, warum müssen Menschen durch Sie ermutigt werden, auf die Bedürfnisse ihres Babys einzugehen?
Ich glaube, dass ganz viele Eltern – und zu denen zähle ich mich ohne Frage dazu – von der Gesellschaft so geprägt sind, dass ihnen ihr Kopf im Weg steht. Sie haben das Bedürfnis, einen Erziehungsstil erstmal intellektuell durchdringen zu müssen, um zu verstehen, was gut für ihr Kind ist. Außerdem redet einem ja ständig jeder rein! Du darfst das Kind nicht verwöhnen! Was – der schläft immer noch bei euch im Bett? Da muss man schon sehr stark sein, um sich nicht verunsichern zu lassen. Genau deshalb braucht es diese Bewegung: Wir ermutigen Eltern auf ihren Bauch zu hören, geben ihnen die Erlaubnis, im Moment zu leben und ihre Zukunftsängste auszublenden.
Man soll sich und seinem Baby einfach vertrauen, richtig?
Ja, ganz unbedingt! Das Baby kommt kompetent auf diese Welt und weiß doch ganz genau, was es braucht! Und wenn es im Tragetuch am ruhigsten ist, dann doch nicht, weil es seine Mutter ärgern will! Sondern weil es sie dort riecht, ihren Herzschlag hört, sanft geschaukelt wird – alles Dinge, die ihm aus deMutterleib bestens vertraut sind und die es beruhigen. Und die Selbstständigkeit, die kommt von ganz allein. Darauf sollten die Eltern vertrauen. Ein Baby muss und kann ja noch gar nicht selbstständig sein, ein zwei oder drei Jahre altes Kind hingegen will das dann unbedingt. Der Mensch hat doch einen inneren Drang zur Selbstständigkeit, will doch wachsen. Meiner Meinung nach gehen Kinder diesen Schritt übrigens viel lieber und leichter, wennihr Bedürfnis nach Nähe in der Babyzeit hinreichend befriedigt wurde.#
Eine Frage, die sich wohl viele Eltern stellen: Bedeutet die bedürfnisorientierte Erziehung die komplette Selbstaufgabe?
Das ist in der Tat ein Punkt, der gerade von Müttern gerne falsch interpretiert wird. Nach meiner Erfahrung neigen viele Mütter dazu, sich aufzuopfern und ihre Grenzen zu missachten. Aber Attachment Parenting meint ganz ausdrücklich die Wertschätzung gegenüber der Bedürfnisse aller Familienmitglieder! Eltern, die gestresst sind, denen es nicht gut geht, können auch keine guten Eltern sein. Meine Verantwortung als Mutter oder als Vater besteht eben auch darin, dafür zu sorgen, dass es mir selbst gut geht, ich muss mich auch um mich gut kümmern. Natürlich muss man sich darüber bewusst sein, dass so ein Baby viel Kraft kostet, und man sollte sich echte Entlastung suchen. Vielleicht lässt man sich die Einkäufe liefern, spendiert sich ab und an eine Putzhilfe, geht mal Mittagessen anstatt immer zu kochen. Eine Idee, die mir gut gefällt, ist die von Mütter-Teams, die sich gegenseitig entlasten. So ein Baby groß zu kriegen, kann einfach nicht die Aufgabe eines einzelnen Erwachsenen sein – das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten.
Kürzlich nannte die Autorin und Bloggerin Caroline Rosales das AttachmentParenting in einem viel beachteten Artikel das „Ticket in die Hölle der Selbstoptimierung“…
Ich glaube, es liegt in der Natur von neuen Bewegungen, Extremisten anzuziehen. Man denke nur mal an die erste Welle des Feminismus. Und so beobachte ich, dass das Attachment Parenting viele Leute anzieht, die sehr auf der Sinnsuche sind. Vielleicht haben solche Leute selbst eine recht schwierige Kindheit gehabt und möchten nun auf jeden Fall alles anders machen, als ihre eigenen Eltern es taten.
Jede gute Idee kann ins Gegenteil verkehrt werden, wenn sie zum Dogma erhoben wird.
So wird das Attachment Parenting zu einer Art Ersatzreligion mit einem ganz starren Regelwerk. Jeder, der es anders macht, wird kritisiert oder erfährt Missbilligung. Da das Attachment Parenting auf den natürlichen Bedürfnissen des Kindes basiert, sind viele Eltern, die es praktizieren, ein bisschen „öko“, und schon wird beispielsweise das Tragen von Stoffwindeln und eine impfkritische Haltung mit dem Attachment Parenting in einen großen Topf geworfen. Leider hat dies dann mit der ursprünglichen Philosophie überhaupt nichts mehr zu tun und schreckt viele Leute – wie eben auch Frau Rosales – ab. Jede gute Idee kann ins Gegenteil verkehrt werden, wenn sie zum Dogma erhoben wird.
Wenn Sie die ganzen aktuellen Diskussionen um das Attachment Parenting betrachten, was wünschen Sie der Bewegung dann für die Zukunft?
Mein ganz großer Wunsch ist es, dass wir irgendwann das Attachment Parenting-Label überhaupt nicht mehr brauchen, weil es normal geworden ist, dass die Bedürfnisse von Babys mit allem nötigen Respekt gesehen und beachtet werden und dass es als Grundhaltung in die Gesellschaft eingesickert ist, Babys nicht mehr schreien zulassen, um sie zu erziehen.
Ihre Tipps für Eltern, die das Attachment Parenting gerne ausprobieren möchten – was brauchen die?
Das ist ja das Tolle! Dass man im Prinzip überhaupt nichts braucht! Nur sich und sein Baby und man kann sofort loslegen. Es braucht gar kein Special Equipment. Vielleicht eine Tragehilfe und einen Rausfallschutz für das Familienbett oder ein Beistellbettchen – das ist aber auch schon alles.
Interview: jl // Foto: privat