Noch immer erleben weltweilt Kinder in ihren Kernfamilien Gewalt in jeder Form. Der Kinder- und Jugendbuchautor Christian Duda hat ein wunderbares, trauriges und urkomisches Buch darüber geschrieben. StadtLandKind konnte sich mit dem Autor zwischen zwei Lesungen auf der Leipziger Buchmesse unterhalten.
Im Jahr 1975 soll Magdi, der elfjährige Held des neuen Jugendbuchs von Christian Duda, Zwiebeln kaufen. Im Laden um die Ecke. Magdi hasst Zwiebeln. Außerdem vergisst er auf dem Weg zum Laden, was er kaufen soll. Es gibt so viel zum Nachdenken – und so viel zum Wütendwerden. Zum Beispiel die Verkäuferin. Das ist so eine richtig blöde Kuh, die ihn auslacht, als er zum zweiten Mal in den Laden kommt, um endlich die Zwiebeln zu kaufen. Und dass er auf dem Gymnasium ist, glaubt sie ihm auch nicht. Jetzt muss er auch gleich wieder weinen. Also schnell raus aus dem Laden.
Das im Frühjahr 2017 bei BELTZ erschienene Jugendbuch von Christian Duda ist mehr als eine autobiographische Kindheitserinnerung, es ist brilliant. Die Geschichte von Magdi, der ein glühender Fan des mächtigen Boxers Mohammed Ali ist, lässt sich schwer in ein Genre pressen. Es ist ein Jugendbuch, ja. Aber auch eines für Eltern, die vergessen haben, wie das ist, wenn man Kind ist und sich gänzlich machtlos und ausgeliefert fühlt. Den eigenen Eltern. Den Umständen. Den Lehrern.
„Worin liegt der Sinn, immerzu Angst zu haben, vor meinem Vater, dem Arsch?“
Magdi hat einen arabischen Vater und eine deutsche Mutter. In „Gar nichts von allem“ bleibt unklar, wen man als Leser mehr zu verachten beginnt. Den Vater, der zuschlägt, wenn er nach Hause kommt und einer der drei Jungen nicht schnell genug verschwindet? Oder die Mutter, die den Schein waren will? Joe heißt eigentlich Joussef und ist Magdis älterer Bruder. Er bekommt die meiste Prügel und schafft es schon, dabei still zu bleiben. Das will Magdi auch schaffen. Aber noch kann er das nicht. Wenn er mal groß ist, nimmt sich Magdi fest vor, dann haut er zurück. Thomas, der über ihm wohnt, darf sich aussuchen, ob er lieber Prügel will, oder Fernsehverbot. Das findet Magdi schwierig. Man wisse ja vorher nicht, wer zuhaut. Die Schläge der Mutter tun nicht weh. Die vom Vater sind so heftig, dass Magdi krankgeschrieben wird und nicht zur Schule darf, bis die schlimmsten Wunden verheilt sind. Magdi ist genervt davon, immer Angst haben. „Worin liegt der Sinn“, grübelt er, „immerzu Angst zu haben, vor meinem Vater, dem Arsch?“
Magdis Geschichte ist nicht nur traurig. Sondern liest sich zwischendurch so unglaublich komisch, so witzig, dass man beim Lesen zwischen Lachtränen und echten Tränen schwankt. Magdis Lehrer sind nervig, vor allem die Deutschlehrerin. Trotzdem ist die Schule seine Rettung, sein Tor zur Welt. Natürlich bleiben die Leser nicht hoffnungslos zurück. Am Ende halten die Geschwister zusammen und lehnen sich gegen die Eltern auf. Und Magdi verliebt sich sogar
„Jeder kann der nächste Retter sein“
Interview mit Christian Duda
Sehr geehrter Herr Duda. „Gar nichts von allem“: Ist das Ihre eigene Kindheit, die Sie hier beschreiben?
Nein! Ja… aber nein. Bin ich geschlagen worden? Ja. Hatte ich Angst vor meinem Vater? Ja. Aber damals, Ende der Sechziger, wurde die Mehrheit der Jungs vertrimmt! Das meiste ist erfunden, das Wichtigste aber nicht. Also die Art und Weise Kinder anzusprechen, das Verhalten des Arztes oder der Verkäufer, Lehrer…
Ihr Name ist eigentlich: Christian Achmed Gad Elkarim, früher hieß er sogar Ahmet Ibrahim el Said Gad Elkarim. Warum heißen Sie heute Christian Duda?
Andersrum: zuerst hieß ich Christian duda, dann kam der Gad Elkarim. Meine Eltern heirateten erst, als ich 6 Jahre alt war. Deswe
en erst Mamas Nachname und später Vaters. Mein erstes Theaterstück schrieb ich als Gad Elkarim. Danach fragte ein Kritiker: wer hat das Stück ins Deutsche übersetzt…? seither schreibe ich als duda, weil ich das nicht erklären will.
Der Autorenseite Ihres Verlags entnehmen wir, dass Sie „Österreicher waren und Ägypter“. Und heute?
Deutsch. Ich bin ein ganz netter Deutscher. Vielleicht denken deswegen so viele Leute, dass ich nicht wirklich deutsch bin?
Bei Lesen von „Gar nichts von allem“ wussten wir manchmal nicht, ob wir Lachtränen oder echte Tränen weinen sollen. Die Schilderungen der häuslichen Situation sind sehr eindrücklich. Was macht das mit einem Kind?
Ich will unbedingt erfahren, wie Sie oder jeder andere Leser diese Frage beantworten würde! Ich will, dass wir alle diese Frage diskutieren. Ich hoffe, dass es viele Antworten gibt. Ich aber sollte nach diesem Buch erst mal schweigen.
Es gibt nicht eine einzige Szene in der Familie, die entspannt oder fröhlich ist. Selbst Weihnachten ist angstbehaftet …Haben Sie persönlich auch schöne Erinnerungen an Ihre Familie?
Aber ja. Ganz viele! Außerdem ist mein Buch keine Lebensbeichte, wie gesagt. An einer Stelle beschreibt Magdi, wie sinnlos es ist, immer Angst vor dem Vater zu haben.
Sehen Sie für ihn darin einen Sinn?
Angst ist evolutionär sinnvoll. Sie rettet Leben. Wir wollen keine Angst haben, weil sie uns Gefahr signalisiert. Das ist nicht schön! Aber sinnvoll!
Als emanzipierter Mann bin ich keinesfalls überrascht, dass Frauen genauso grauenhaft sein können wie Männer
Wir haben beim Lesen hin und her überlegt: Wer macht sich schuldiger: Der Vater, der Gewalt ausübt, oder die Mutter, die es nicht verhindert, sondern diese Art der Erziehung fördert. Warum schützt die Mutter ihre Kinder nicht?
Als emanzipierter Mann bin ich keinesfalls überrascht, dass Frauen genauso grauenhaft sein können wie Männer… Schuld kann man nicht teilen! Jeder kann der nächste Retter sein. Wer nichts tut, ist immer zur Gänze schuld.
Als Gegenpol dazu beschreibt Magdi die Schule. Zwar gibt es hier auch nervige Lehrerinnen, aber auch Freundschaften und viele Szenen voller Komik, die wohl jeder aus seiner Schulzeit kennt. Ohne das Gymnasium wäre aus Magdi wohl kein Schriftsteller geworden, oder?
Magdi weiß nicht, dass er Schriftsteller geworden ist. Er erkennt es nicht mal, als seine Geschwister ihn loben. Wahrscheinlich glaubt er, dass man als Autor alt sein muss. Von außen betrachtet muss ich sagen, dass in den Siebzigern das auch sonst niemandem aufgefallen wäre. Der Literaturgeschmack war damals sehr eindeutig. Und Magdis Lehrerin, Frau Voll, hätte viele Anmerkungen zu Stil und Gedankengliederung gemacht.
Was meinen Sie, ist diese Art groß zu werden auch heute noch möglich? Ein Vater, der prügelt, die Mutter, die mitmacht, Kinderärzte, die nichts unternehmen?
Das ist heute!!! Diese Buch habe ich in die Siebziger verlegt, um zu sagen: Seht her – nix hat sich verändert! Gewalt in der Kindheit ist der Ursprung für alle Gewalt in der Gesellschaft. Immer schon und überall.
Durften Ihre eignen Kinder „Gar nichts von allem“ lesen?
Na klar. Meine Kinder wissen alles über mich und da sie mich auch aus Situationen kennen, in denen ich nicht ganz vorbildhaft war, kennen sie mich besser als ich mich selbst.
Wird es eine Fortsetzung geben?
Nein. Die Geschichte ist beendet. Ja. „Gar nichts von allem“ ist der zweite Teil einer Trilogie, deren erster Teil „Elke“ war. Der dritte Teil kommt nächstes Jahr raus. Elke beschreibt eine Kindheit in den 2000er Jahren, „gar nicht“ eine Kindheit der Siebzigerjahre, der dritte Teil geht noch weiter zurück. Anders gesagt: Kindheit in Zeiten meines Sohnes, meine Kindheit und zu Zeiten meiner Eltern… das ist der Plan.
Und ganz zum Schluss: der Titel. Was bedeutet er?
Da fallen mir viele Antworten ein, keine ist richtig, keine ist falsch.
bw // Foto: Ferdinando Lannone
Grundrecht
In Deutschland gibt es keine ausdrücklich geregelten Kindergrundrechte. Das Bundesverfassungsgericht hat aber entschieden, dass die Grundrechte auch für Kinder gelten, dass also das Kind selbst einen Anspruch auf Schutz durch den Staat hat. Kinder sind insbesondere über die Grundrechte in Art. 1 GG (Schutz der Menschenwürde und Menschenrechte), Art. 2 GG (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) und über die Grundrechte zur Familie in Art. 6 GG geschützt.
Aktuell
Noch heute kommen jede Woche drei Kinder in Deutschland ums Leben, weil sie von Erwachsenen misshandelt wurden. Das ist der Durchschnittswert aus der offiziellen Polizeistatistik. Pro Woche müssen circa siebzig Kinder nach Gewaltattacken von Erwachsenen schwer verletzt im Krankenhaus behandelt werden. Seit 2012 das Bundeskinderschutzgesetz in Kraft trat, findet ein langsames Umdenken statt. Die Jugendämter bekommen immer häufiger Hinweise über betroffenen Familien. Besonders gefährdet sind nach wie vor Kleinkinder bis zum vierten Lebensjahr.