„Diese Kinder haben alles verloren“

„Vernunft und Diktatur können Jahrzehnte miteinander leben. Liebe und Diktatur keine Minute.“ Seit Ausbruch des Syrien-Krieges vor fünf Jahren ist der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami immer stärker in die politische Öffentlichkeit gerückt. Rafik Schami kritisiert die Haltung des Westens aufs Schärfste und wird nicht müde zu betonen: „Kinder sind die wahren Verlierer dieses Krieges.“ Rafik Schami lebt in der Pfalz. StadtLandKind traf ihn zum Interview.

verloren

Sehr geehrter Herr Schami, Sie haben vor einiger Zeit gesagt, dass Kinder die „wahren Verlierer des Krieges“ seien. Warum ist das so?

Weil sie nie mitentscheiden dürfen, dafür aber die grässlichen Folgen eines Krieges tragen müssen. Erwachsene können gewinnen oder verlieren. Kinder verlieren immer: die Kindheitsjahre, Spiel- und Entspannungszeit, und vor allem die Bildung. Sie sind immer bedroht, ohne sich wehren zu können, erleiden mehr Hunger und Krankheiten als Erwachsene. Und am Ende verlieren sie alle Voraussetzungen für ein normales Leben. Denken Sie an ein syrisches Kind, das bisher fünf Jahre Schule verloren hat, das den Tod seiner nächsten Verwandten und Freunde miterleben musste und das Tausende von Kilometer zurücklegen musste, um zu überleben. Dieses Kind hat alles verloren.

Der von Ihnen gegründete Verein „Schams“ (dt. Sonne) unterstützt Kinder und Jugendliche in den Flüchtlingslagern in der Türkei, Jordanien und im Libanon. Warum dort – und nicht hier? 

Die Idee entstand 2012 aus der Überzeugung, dass Hilfe vor Ort effektiver ist und den Kindern und Jugendlichen Schutz bietet gegen die Verführung der islamischen Krieger. Sie soll ihnen unabhängig von ihrer Konfession Bildung und Aufklärung anbieten und bisweilen psychologische Betreuung ermöglichen,
weil viele Kinder traumatisiert sind. Das verändert sich auch heute nicht, weil die syrischen Kinder, die in Deutschland angekommen sind, geschützt sind im Vergleich zu den Kindern in den Lagern in den umliegenden Ländern.

Wie genau unterstützt der Verein die Kinder in den Lagern?

Wir suchen Projekte, manchmal sprechen uns die Projekte durch engagierte Menschen an und wir überprüfen genau, ob sie unterstützt werden können oder nicht. Das Geld, das wir haben, stammt aus Spenden und meinen Benefiz-Veranstaltungen. Wir und unsere Freunde am Ort kontrollieren die Projekte in Achtung vor den Spendern und den Kindern.

Und mit welchem Ziel?

Einen Teil der Schmerzen und Verluste dieser Kinder zu lindern. Wir versuchen, ihnen stets sinnvolle Ausbildungen und Schutz zu bieten, und dass sie unabhängig von der Ethnie und Religionszugehörigkeit miteinander spielen und lernen.

Sie waren seit 45 Jahren nicht mehr in Syrien. Ihre Werke sind dort bis heute verboten. Haben Sie die Hoffnung aufgegeben, zurückzukehren, und sei es auch nur für einen Besuch?

Nein, aber es wird lange dauern, denn ohne Sicherheit kann ich nicht nach Syrien reisen.

Wer Ihre Bücher kennt – auch die für Jugendliche – kennt Sie als großen, oft humorvollen Erzähler, als einen bildhaften Wort-Maler, als einen Dichter der Liebe. Seit Ausbruch des Krieges werden Sie mehr und mehr zu einem politischen Kommentator. Hat es Sie Überwindung gekostet, diese Rolle anzunehmen?

Ja, sehr große, aber ich musste es machen, vor allem gegen die Dummheit, die mancher Prominenz-Journalist wie Jürgen Todenhöfer verbreitete. Auch gegen Rassisten und Populisten, die nun ihren Hass gegen die Fremden lostraten, musste ich ankämpfen.

Zur Situation der Flüchtlinge in Deutschland haben Sie oft klare Worte gefunden, speziell in Sachen Anpassung und Anerkennung derwestlichen demokratischen Werte. Ein arabischer Mann, der nicht von einer Frau in Deutsch unterrichtet werden möchte, solle (ich zitiere) „seine Koffer packen und gehen“. Ist das nicht etwas zu hart?

Nein, ich empfahl ihn härter. Es ging um einen realen Fall. Er soll nach Saudi-Arabien gehen, wo Männer mit Bart und Peitsche unterrichten. Der Fall hat mich in der Tat erschüttert. Wie kann ein Mensch, der hier Schutz gefunden hat, genau die reaktionäre Haltung und die verfaulten Werte durchsetzen wollen, die ihn und sein  Volk in diese Katastrophe geführt haben? Die Gleichstellung der Frau ist keine Gnade des Mannes, sondern ein erkämpftes Recht. Ich haben deshalb auch die zehn Ratschläge für Geflüchteten geschrieben. Sie sind inzwischen in sechs Sprachen lesbar.

„Wo ist der Druck der Europäer gegen die Ölstaaten, die weder helfen noch Flüchtlinge aufnehmen, dafür aber  westliche Journalisten kaufen, die das Gegenteil behaupten?“

Dass Deutschland seine Grenzen geöffnet hat, haben Sie damals und heute kritisiert. Welche Alternative hätte es gegeben?

Der Krieg in Syrien begann im Herbst 2011. Seitdem rief ich die Europäer auf, vor Ort zu helfen. Es war ein Ruf in die Wüste. Man hätte wissen müssen, dass die Heuchelei des Westens gegenüber Assad dazu führen musste, dass Millionen vor seinem Giftgas und den Raketen sowie vor der Barbarei seiner Mit- und Gegenspieler (Hisbollah und IS, Nussra, Russen und andere Verbrecher) flüchten müssen. Das hätte eine gemeinsame europäische Aktionsplanung verlangt.

Nichts ist geschehen. Meine wiederholte Aufforderung, die drei Länder, die die große Last tragen (der Libanon, Jordanien und die Türkei) zu unterstützen, verhallte seit Ende 2011 ohne eine einzige positive Reaktion. Hier scheiterten die Medien total, statt den Politikern einen Spiegel vorzuhalten, wurden sie zu ihrem elenden Schatten. Wo ist der Druck der Europäer gegen die Ölstaaten, die weder helfen noch Flüchtlinge aufnehmen, dafür aber  westliche Journalisten kaufen, die das Gegenteil behaupten. Da hätte die EU, wenn sie schnell reagiert hat, diktieren können. Heute diktiert Erdogan, als ein kalter Politiker. Wollte die Bundesregierung die Grenzen aufmachen, hätte sie die Bevölkerung vorbereiten müssen. Nichts dergleichen ist passiert. Mir kam die Regierung vor, als wenn sie in Panik geraten ist und dann wurden die Geflüchteten schnell auf Orte verteilt, die nicht einmal informiert waren. Das soll rationale Planung sein? Wozu umgeben denn Experten die Minister?

Sie haben Deutschland mit einem  Körper verglichen. Auch hier müsse man Grenzen wahren und sagen: bis hier und nicht weiter. Aber wo ist in diesem Fall das „bis hier“?

Nein, das stand nicht zur Debatte, bis hier oder bis dort. Ich bin kein Experte in Sachen Massenflucht und deren Aufnahme. Ich habe darauf reagiert, weil man das Wort Grenze verteufelt hat, da sagte ich: Der Körper eines Menschen wäre ohne die Grenze ( z.B. Haut) nicht funktionsfähig. Grenzen regulieren. Sie gewähren Schutz ohne Chaos. Ein weiterer Punkt macht Ihnen Sorgen: wenn alle, die können, aus Syrien fliehen, sei niemand mehr da, das Land aufzubauen.

Vertrauen Sie nicht darauf, dass die Menschen zurückgehen, sobald es möglich ist?

Das hätten sie tun können, wenn sie in den umliegenden Ländern geblieben wären. Aber nun wird es schwieriger werden, wenn man hier langsam Fuß fasst, seine Kinder sich hier eingelebt haben, und übrigens: Kinder können das sehr schnell. Dann wird die Rückkehr selbstverständlich schwerer, für jeden. Und das ist kein Vorwurf, sondern eine nüchterne Feststellung.

Eine Frage zum Schluss: wenn Sie an Damaskus denken, Ihre  Heimatstadt, woran denken Sie dann zuerst?

Komischerweise an den morgendlichen Mokka auf der Terrasse unseres Hauses.

Und noch eine Frage ganz zum Schluss: „Die dunkle Seite der Liebe“ gilt als autobiographisch gefärbte Auseinandersetzung mit der Geschichte Syriens von 1870 bis zum Jahr 1970. In „Sophia oder der Anfang aller Geschichten“ geht es um die Macht der Liebe. Ist die Liebe wirklich so stark, dass sie Leben retten kann?

Alles, was eine Autorin oder ein Autor schreibt, ist autobiographisch gefärbt, nicht im Sinne welche Figur im Roman mich darstellt, sondern weil etwas Seltsames
beim Arbeiten an einem Roman passiert. Sie müssen sich die Seele, Philosophie, Utopie, Persönlichkeit, Haltung  wie ein Puzzle vorstellen. In dem ich anfange, werfe ich das Bild hinauf und es fällt auseinander und wenige Puzzleteile dringen in die eine Figur,  oder viele in die andere. So verteilt sich die eine Identität in viele Protagonisten. Natürlich gibt es Romane die 1 zu 1 vom Autor erzählen, aber sie sind todlangweilig. Liebe ist in Krisenzeiten eine Retterin. Die Vernunft ist eine Opportunistin. Sie fragt ob etwas gefährlich sei, ob es nicht besser sei, sich zu ducken, um die Karriere oder gar das Leben nicht zu gefährden, ob es nicht besser sei, andere das machen zu lassen. Die Liebe fragt nicht. Sie gibt, ohne etwas zu erwarten. Sie scheut keine Gefahr, um den geliebten Menschen zu retten, deshalb bekämpft eine Diktatur seltener die Vernunft und oft die Liebe. Vernunft und Diktatur können Jahrzehnte miteinander leben. Liebe und Diktatur keine Minute.

Interview: Bettina Wolf // Fotos: fotolia; Root Leeb

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