Das Thema ist allgegenwärtig. Jedes Gespräch, privat oder beruflich, dreht sich zurzeit früher oder später um ein Thema: die Flüchtlinge und Deutschland. Abseits von Schlagworten wie „Flüchtlingsströme“, „Schaffen wir das?“, und auch abseits von verstörenden Bildern haben wir uns in unserem Kerngebiet umgesehen. Waren in Flüchtlingsunterkünften, haben mit traumatisierten Familien gesprochen, mit ehrenamtlichen Helfern, die Tag und Nacht im Einsatz sind. Und haben den vierjährigen Odai aus Syrien kennengelernt. Er ist ohne seine Mutter mit zwei seiner (selber gerade erst volljährigen) Onkel aus Damaskus geflohen. Hat in vier Wochen zwei Kontinente überquert, sieben Länder und mehr als 5000 Kilometer hinter sich gebracht. Jetzt lebt er in einer Not-Unterkunft für Familien in Weinheim.
Wo alles begann
„Wie alles anfing? Das können wir gar nicht mehr genau sagen. Aber wo alles anfing, wissen wir noch genau: In Damaskus. Im Haus unserer Eltern.“
Wir sitzen im 3. Stock der Weinheimer Flüchtlingsunterkunft „Gups-Hotel“. In dem luftigen Zimmer der Brüder Mohanad, Mouloud, Mohamed und ihrem kleinen Neffen Odai. Seit sechs Monaten leben Mouloud (18) und Mohanad (23) mit dem vierjährigen Odai in Weinheim. Vor wenigen Wochen gelang auch dem 28-jährigen Bruder Mohamad die Flucht.
„Die Lage in Damaskus wurde in den letzten Jahren immer unübersichtlicher. Die Fabrik, in der wir gearbeitet haben, wurde durch eine Bombe zerstört, wir schlugen uns alle so durch. Zur Schule sind wir nur kurz gegangen. Nur unser ältester Bruder hat immer Arbeit, er ist LKW-Fahrer. Als er Sahar geheiratet hat und Odai zur Welt kam, wollte unsere Mutter ihren ersten Enkel unbedingt sehen. Sie wohnten etwas weiter weg und Sahar war wieder schwanger. Also haben Mouloud und ich Odai abgeholt und sind zu unserer Mutter gefahren. Eigentlich wollten wir nur einige Tage bleiben. Doch dann kamen die Kämpfer plötzlich bis in unsere Straße, die Armee fiel ein und war unter Beschuss von Isis. Wir mussten einen Monat lang bleiben, wir wussten nicht, was wir tun sollten. Odai wollte natürlich nach Hause zurück. Aber es gab keine Möglichkeit. Der Gedanke an eine Flucht ins Ausland wurde immer stärker. Dann wurde unser Haus zerstört. Unsere Mutter konnte zu Verwandten – und wir sind mit Odai zu Fuß Richtung Grenze geflohen. Nachbarn, Freunde, Fremde, alle flohen Richtung Grenze. Odai war gerade drei Jahre alt. Wir haben ihn immer abwechselnd getragen.“
So begann die überstürzte Flucht der Familie. Die Eltern des inzwischen Vierjährigen leben noch immer in Syrien, in der Nähe von Damaskus. Jeden Tag, sobald er aus dem Kindergarten kommt, telefoniert Odai mit seiner Mutter.
Die Route
„Wir sind zu Fuß Richtung Türkei geflohen. Wir mussten nur ungefähr zwei Stunden durch bergiges Gebiet laufen, wir durchquerten einige kleine Flüsse. An der Grenze wurden nur Odai und Muhanad von den Grenzposten durchgelassen.Zwei Stunden später gelang es dann auch Mouloud die Grenze zu überqueren: ich hatte mich unter die Bauern geschummelt, die zwischen Syrien und der Türkei hin und herfuhren, um Waren und Tiere auf den Markt zu bringen. Wir nahmen den Bus nach Izmir. Hier mussten wir in einem von Schleppern angemieteten Versteck warten – bis genügend Flüchtlinge für eines der Boote zusammen waren. Wir bekamen zu essen und warteten. Nach fünf Tagen ging es um Mitternacht los. Wir waren sieben Stunden auf dem Wasser.“
Hatte Odai große Angst?
„Nicht nur Odai. Wir hatten alle große Angst! Vor allem Angst vor den Wellen. Es waren 47 Leute an Bord, auch viele Familien. Odai wanderte von Arm zu Arm. Zum Glück war das Meer in der Nacht ruhig.“
Das Boot bringt die Flüchtlinge auf die Insel Chios. In einer abgelegenen Ecke, ohne Wasser und Verpflegung werden sie abgesetzt. Sobald es hell wird, laufen sie los. Fünf Stunden lang überqueren die 50 syrischen Frauen, Kinder und Männer die Insel, bis sie eine Polizeistation
finden. Hier bekommen sie Wasser und eine Unterkunft.
Und das Ziel? Warum Deutschland?
„In Syrien denken die Menschen, dass es in Deutschland ruhig ist. Dass hier Ordnung und Pünktlichkeit herrschen. Sie denken, es gibt Arbeit und man kann auf die Straße gehen, ohne erschossen zu werden, dass man hier in Sicherheit und wie ein Mensch leben kann.“
Von Chios aus nahmen die drei das Schiff nach Athen. Weiter ging es in einer immer größeren Gruppe von Flüchtlingen nach Mazedonien.
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Warum in so einer großen Gruppe? Wäre es nicht einfacher gewesen, allein zu reisen?
„Alle haben uns vor den Balkan-Ländern gewarnt. ‚Geht da bloß nicht alleine durch!‘, hieß es immer wieder. ‚Da werdet ihr überfallen und ausgeraubt!‘. Wir haben dann mit 100 anderen Flüchtlingen die Grenze überquert und fühlten uns sicher. Wir sind dann durch Mazedonien gelaufen. Die Polizei hat uns gestoppt. Sie haben uns eine Landkarte gegeben und gesagt: ihr habt zwei Tage, um das Land zu durchqueren. Seid ihr länger hier, müssen wir euch zurückbringen. Ein Bus hat uns dann zur serbischen Grenze gebracht. An Serbien haben wir kaum noch Erinnerungen. Wir haben versucht, die erste Nacht in einer Art Park zu verbringen. Die Polizei hat uns immer wieder vertrieben. Wir sind weiter, immer noch in einer großen Gruppe. Und an der Grenze zu Ungarn hat uns dann die ungarische Grenzpolizei festgenommen.“
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Die Kosten?
„Ein Bruder unseres Vaters lebt in England. Er hat uns von Land zu Land immer wieder Geld überwiesen. Die Reise hat für jeden von uns 4000 Euro gekostet.“
Der schlimmste Moment?
„Als wir in Ungarn waren, hätten wir fast aufgegeben. Wir wurden dort behandelt wie Schwerverbrecher, wie Tiere. Von Polizisten mit bissigen, laut bellenden Hunden bewacht, eingepfercht in ein Lager, rundum war Stacheldraht. Nur einmal alle 24 Stunden gab es etwas zu essen. Auch für die Kinder. Hier war es grausam, viel Gewalt. ‚Ist es das wirklich wert, dachten wir? Soweit sind wir gekommen und jetzt müssen wir aufgeben?‘ “
Das letzte Stück
„Nach drei Tagen im Lager durften wir plötzlich gehen. Sie haben uns in einen Bus gepfercht, aber drei Dörfer weiter plötzlich wieder rausgeschmissen. Wir haben die Nacht auf der Straße gewartet, sind dann zum nächsten Dorf gelaufen und haben uns Tickets nach Budapest gekauft. Von dort aus sind wir direkt nach München weitergefahren und dann in das Auffanglager nach Ellwangen.“
Der erste Eindruck von Deutschland?
„Wir waren so müde. Wir haben gar nichts mehr gedacht. Nur die Ruhe. Die große Ruhe in Deutschland, die ist uns gleich aufgefallen.“
Angekommen!
„Seit sechs Monaten leben wir jetzt hier in Weinheim. Mouloud geht zur Schule. Odai hat einen Kindergartenplatz. Er liebt den Kindergarten. Es ist wunderbar hier. Alle sind so unglaublich freundlich und hilfsbereit. Nur das Warten auf unsere Anträge zermürbt uns. Und unsere große Sorge ist: Odai muss zu seiner Familie, er braucht seine Eltern. Aber wie soll das gehen? Es gibt keinen Weg zurück. Ein Stockwerk tiefer wohnt ein syrischer Vater mit drei kleinen Töchtern Da geht Odai immer hin, klopft an die Tür und fragt: ‚Papa? Papa?‘“
Protokoll: Bettina Wolf // Fotos: Simon Hofmann
StadtLandKind wird Odai und seine Familie für unsere nächste Ausgabe wieder besuchen und ihn – und natürlich auch seine Onkel – bis dahin begleiten. Danke an Mouloud, Mohamed und Mohanad für ihre Offenheit. Und Danke an Raid Jubran fürs Dolmetschen.
Ich schlafe mit den Betroffenen ein, ich wache mit ihnen auf und habe trotzdem mein warmes Bett, Kaffee, Arbeit und alles, was ich zum Leben brauche.
Liebe Leute, nehmt euch die Zeit und lest diese Berichte, bevor ihr lauthals zu Schreien anfangt, über die Entbehrungen und Ängste, die wir Deutschen entwickeln.
Und kommt wieder runter, denn wir sind die Letzten, die Angst haben müssen.