Tag für Tag fliehen Menschen aus Syrien, Afghanistan, aus Nordafrika nach Deutschland. Gelingt ihre Flucht, leben sie für viele Monate in Auffanglagern, in Turnhallen, in Kasernen. Ihre Integration gilt als die größte Aufgabe für die gesellschaftliche Zukunft des Landes. Wie wird sich Deutschland mit diesen Menschen verändern? Und warum wollen so viele Menschen aus Syrien unbedingt nach Deutschland? StadtLandKind im Interview mit Dr. Sabine Mannitz, Leiterin der Forschungsgruppe „Politische Globalisierung und ihre kulturelle Dynamik“ am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main
Weltweit sind – laut UNO – außerhalb ihres Landes mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Das sind so viele, wie seit dem Ende des 2. Weltkrieges nicht mehr. Warum kommen zurzeit so viele Flüchtlinge nach Europa?
Man muss die Zahlen immer in Relation sehen: Zum einen hat sich die Weltbevölkerung seit Ende des 2. Weltkriegs ja verdreifacht – die Flüchtlingszahlen sind aber nicht im gleichen Verhältnis gewachsen; zum anderen kommen im weltweiten Vergleich noch immer eher wenige Menschen nach Europa. Weitaus mehr Menschen sind innerhalb von Afrika und Asien auf der Flucht bzw. haben bereits in direkter Nachbarschaft zu ihren Herkunftsländern Zuflucht gefunden. Es ist schon richtig, dass lange nicht so viele Flüchtlinge nach Europa gekommen sind wie in den vergangenen anderthalb Jahren. Das hat ganz unmittelbar mit den Entwicklungen in Syrien, im Irak und den Nachbarregionen zu tun. Es hat, wenn Sie die Zeit seit 1945 anschauen, immer wieder starke Anstiege von Fluchtphänomenen gegeben, die von extremen politischen oder natürlich auch ökonomischen oder Umwelt-Katastrophen ausgelöst wurden. Ein anderer Faktor ist die Flüchtlingspolitik der EU: die Grenzen des Schengen-Raums wurden stark befestigt, Regelungen geschaffen zur Rückführung von Asylbewerbern in Länder, die als sicher gelten, und die Dublin-Regelungen sollten dafür sorgen, dass Asylbewerber in den EU-Ländern bleiben und dort ihr Verfahren bekommen, wo sie als erstes Boden der EU betreten haben. All das hat die Zahl derjenigen, die sich auf den gefährlichen Weg in die EU gemacht haben, über Jahre auf eher niedrigem Niveau gehalten, so dass die Europäer sich nicht genötigt sahen, sich näher mit ihrer gemeinschaftlichen Asylpolitik zu befassen. Das letzte Jahr hat gezeigt, dass die bestehenden Vereinbarungen unter Stress überhaupt nicht funktionieren, weil weder die Solidarität mit den Flüchtlingen noch die innerhalb der Mitgliedsstaaten hinreichend gegeben ist.
Und warum kommen zurzeit so viele Syrer? Der Krieg von Baschar Hafiz al-Assad dauert doch schon länger an …
Der Krieg in Syrien dauert schon deutlich länger an, aber es macht sich eben niemand mal eben so auf die Flucht. In allen Krisen- und Konfliktgebieten gibt es Stufen der Eskalation, die sich auch in den Fluchtbewegungen spiegeln. Zu Beginn hoffen noch viele Menschen, dass alles bald ein Ende hat, man die Trümmer beseitigt und in einen normalen Alltag zurückkehrt. Außerdem gibt es zu Beginn meist noch Rücklagen und Nahrungsreserven, genügend funktionierende Infrastruktur und Beziehungen, um sich zu versorgen; auch Schulen und Krankenhäuser, die wie vorher funktionieren. All das ändert sich, je länger ein bewaffneter Konflikt andauert und die Kriegsökonomie alles erschwert, verknappt und verteuert: Infrastruktur wird zerstört, Reserven werden verbraucht, mehr und mehr Nachbarn und Freunde entschließen sich doch zur Flucht, oder sie fallen Angriffen zum Opfer – kurz: das soziale Gefüge zerbricht. Wir alle kennen mittlerweile Bilder aus dem zerstörten Aleppo, hören Meldungen zu belagerten Städten, den Eroberungen des sogenannten „Islamischen Staats“ und über das Zwangsregime, das der IS in den eroberten Gebieten zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Die Situation hat sich in Syrien und Teilen des Irak dermaßen zugespitzt, dass nun sehr viel mehr Menschen als noch vor 2-3 Jahren gar keinen anderen Ausweg als die Flucht mehr sehen. Zunächst sind auch viele Menschen in den Nachbarländern geblieben, also von Syrien aus in den Irak, nach Jordanien in den Libanon oder nach Ägypten geflohen. In all diesen Ländern ist die Situation für Flüchtlinge ungeheuer schwierig und vielfach nur möglich, solange noch Geldreserven vorhanden sind. Die humanitären Hilfsprogramme sind unterfinanziert, so dass Zehntausende überhaupt keine Unterstützung erhalten. Diese Zuspitzung ist für viele der Auslöser, sich doch auf den Weg nach Europa zu machen.
Und warum Deutschland?
Weil die Mitglieder im Süden der EU, wo nun mal die allermeisten Flüchtlinge zuerst den Boden der EU betreten, nicht in der Lage sind, die Aufnahme und Versorgung für so viele Menschen zu gewährleisten. Das hat sich schon bei niedrigeren Flüchtlingszahlen über die letzten Jahre gezeigt. Nach den Regelungen der Dublin-Vereinbarung müssten dort alle Flüchtlinge aufgenommen werden und müsste dort ihr Asylverfahren durchgeführt werden, aber die Aufgabe übersteigt die Kapazitäten in Italien, Spanien, Griechenland oder Bulgarien und Rumänien. Diese Länder sind daher dazu übergangen, die Flüchtlinge weiterreisen zu lassen. Es wollen ohnehin kaum Flüchtlinge dauerhaft in den Ländern der EU bleiben, die aufgrund eigener sozial-ökonomischer Schwierigkeit keine Integrationsaussichten bieten. Dass Deutschland als wirtschaftlicher Spitzenreiter der EU besonders attraktiv ist, ist nachvollziehbar; und im übrigen auch, dass stark belastete andere EU-Staaten von einem wirtschaftlich so leistungsfähigen Land auch einen deutlichen Beitrag bei der Aufnahme von Flüchtlingen erwarten.
Woher kommt das unglaublich positive Bild, das in Syrien von Deutschland herrscht?
Das hat mit guten Beziehungen in der Vergangenheit zu tun und mit den Bemühungen beider deutscher Staaten, während des Kalten Krieges dort Fuß zu fassen. Vor allem im akademischen Bereich gab es intensive Entwicklungshilfe, und das hat zu anhaltenden Verbindungen geführt: In den 1950er Jahren bemühte die DDR sich stark um internationale Anerkennung. Syrien war das erste Land, in dem die DDR ein Generalkonsulat eröffnete. Es gab ein Stipendien-Programm, mit dem jungen Syrern ein Hochschulstudium in der DDR finanziert wurde, und nicht wenige kehrten mit deutschen Ehefrauen zurück. Es gab ein DDR-Kulturinstitut in Damaskus, das Deutschkurse anbot, und parallel ein Goethe-Institut, das mit den Ostdeutschen um die syrischen Deutschstudenten konkurrierte und sie für ein Studium in Ost- oder Westdeutschland vorbereitete. Zeitweilig hatte ein Viertel der Lehrenden an der Universität in Damaskus einen deutschen Hochschulabschluss. All das ist in guter Erinnerung.
Warum kommen so viele und vor allem junge, allein stehende Männer?
Sie sind diejenigen, denen in den Familien am ehesten zugetraut wird, dass sie den gefährlichen Weg über das Mittelmeer oder auch zunächst durch die Kampfgebiete in Syrien oder im Irak bis in die Türkei meistern können. Die Hoffnung vieler Familien richtet sich auf die Schaffung weniger gefährlicher Möglichkeiten für den Familiennachzug, dass also wenn einer der Söhne es geschafft hat, sich in die EU durchzuschlagen und dort sein Asylrecht in Anspruch zu nehmen, es ihm gelingen wird, die Angehörigen, die weniger reisefähig sind, nachzuholen. Die Überlegung ist schlicht, dass für Familien mit kleinen Kindern, alte Menschen, unbegleitete Minderjährige oder allein reisende Frauen die irregulären Wanderungsrouten noch größere Risiken bergen.
Bislang zeigen sich die Deutschen von ihrer besten Seite. Viele Politiker fürchten allerdings, dass die Stimmung kippen könnte. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Noch überwiegt nach meinem Kenntnisstand und meiner Beobachtung die positive Haltung. Bei denjenigen, die sich um die ankommenden Flüchtlinge gekümmert haben, kippt ja auch nicht einfach so die grundsätzliche Stimmung oder Bereitschaft dazu – es schwinden eher die Kräfte, wenn nicht die nötige politisch-administrative Unterstützung kommt. Es ist ganz klar, dass die Aufnahme und Versorgung von überraschend vielen Menschen erst mal logistische Probleme aufwirft, auch in einem Land, das so gut da steht wie wir. Diese Probleme werden in den Ländern und Kommunen sehr unterschiedlich gut oder weniger gut gelöst. Damit das Kanzlerinnen-Wort, dass wir das schaffen, für die vielen bereitwilligen Helferinnen und Helfer glaubhaft bleibt, muss Politik von der Bundesebene bis hinunter auf die kommunale Ebene nun liefern: unbürokratische Lösungen, mehr Personal, schnelle und hinreichende Finanzausstattung, aber natürlich auch Strukturbildung, um die bleibenden Aufgaben der Integration bewältigen zu können. Man kann nicht ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger mit diesen Aufgaben allein lassen.
Länder, Kommunen, der Kreis – signalisieren schon länger, dass sie an der Grenze des Machbaren gekommen seien. Hier scheint keine Lösung in Sicht. Was macht es mit jungen, arabisch-muslimischen Männern, die monatelang in einer Halle leben – abgeschnitten vom normalen Leben – ausharren müssen. (Stichwort: Ist das schlimmste Hindernis der Integration die Untätigkeit und Passivität und beides wird vom deutschen Asylbewerbersystem unterstützt ….)
Es gibt auch Kommunen, in denen Aufnahmekapazitäten vorhanden sind, die nicht in Anspruch genommen werden. Insgesamt fehlt leider vor allem die zentrale Koordination, sowohl auf Bundesebene als auch in den Ländern, weil man in dem Glauben, das Dublin-Abkommen würde Flüchtlinge von Deutschland fernhalten, keine Kapazitäten in diesem Bereich aufgebaut bzw. sie teilweise sogar abgebaut hatte.
Was die Unterbringung angeht, ist es in der Tat für alle Beteiligten am besten, die Aufenthalte in Sammelunterkünften so kurz wie möglich zu halten und allen Menschen, die eine realistische Bleibeperspektive haben, so schnell wie möglich ein normales Wohnumfeld und Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt zu gewähren. Die EU-Mitgliedsstaaten handhaben dies recht unterschiedlich. Schweden gilt z.B. deshalb schon lange als ein Bespiel für sehr gute Integrationsangebote, weil es die Schutzsuchenden nicht lange isoliert, sondern sie so schnell wie möglich in den normalen gesellschaftlichen Alltag einbezieht. Nicht nur für junge Männer ist der Sonderstatus der sozialen Isolation und erzwungenen Passivität schwer zu ertragen. Dass Frustrationsgefühle entstehen, das Aggressionsniveau steigt und Spannungen zwischen Menschen entstehen, die unfreiwillig auf engem Raum zusammenleben, ist eine ganz normale menschliche Reaktion.
Bildung ist der Schlüssel zur Integration – da sind sich alle einig. Aber, wie sollen die Schulen 300.000 Schüler mehr stemmen, dazu kommt, dass zwei Drittel der Schüler in Syrien nur sehr eingeschränkt lesen und schreiben können, dass sie nur einfachste Rechenaufgaben lösen können.
Am Beispiel Bildung – wie Sie sagen, ein Schlüssel zur Integration – kann man sehr gut veranschaulichen, dass Alteingesessene und Neuangekommen sich überhaupt nicht in einer Ressourcenkonkurrenz befinden, sondern gleichermaßen profitieren, wenn die Politik jetzt richtig agiert: Experten diagnostizieren seit langem einen erheblichen Investitions- und Innovationsrückstau im deutschen Bildungssystem. Wir haben öffentliche Mittel im Überfluss, aber die schwarze Null soll wichtiger sein als die notwendigen Zukunftsinvestitionen? Als ressourcenarmes Land kann unsere Wirtschaft nur nachhaltig erfolgreich sein, wenn sehr viel stärker in Bildung investiert wird. Wenn die aktuelle Zuwanderung die Einsicht beschleunigt, dass hier ganz dringend Geld in die Hand genommen werden muss, ist es zum Nutzen des Gesamtsystems und ‚vergrößert den Kuchen‘, statt dass irgendjemandem etwas vorenthalten würde.
Worauf müssen wir uns einstellen? Wie wird sich unsere Gesellschaft verändern?
Unsere Gesellschaft wird durch die Zuwanderung der Flüchtlinge, von denen viele absehbar bleiben werden, verjüngt. Sie wird es vermutlich auch insgesamt stärker mit Diversitätserfahrungen zu tun bekommen, also mit Komplexität und Heterogenität unterschiedlicher Lebenskonzepte konfrontiert werden, wie es bislang vor allem in den städtischen Ballungszentren als Normalität gilt. Das wird in Teilen der Gesellschaft Ängste und Rückzugsgefechte mobilisieren und dadurch polarisieren. Es wird zu guter Letzt unser Land aber innovationsfähiger machen und kompetenter im Umgang mit Diversität werden lassen – zu der es ohnehin keine Alternative gibt, denn wir leben in politisch, ökonomisch und vielfach auch sozial globalisierten Zusammenhängen. Diese Uhr lässt sich nicht zurückdrehen, und wir profitieren ja auch in erheblichem Maße davon. Im übrigen ist Deutschland schon seit langem von Wanderungsprozessen mit geprägt und hat sich in der Dynamik von Zuzug und Abwanderung gesellschaftlich ausdifferenziert und modernisiert. Das wird bei der aktuellen Zuwanderung nicht anders sein, sofern es uns gelingt, mit Pragmatismus statt mit Parolen zu reagieren und Teilhabe zu ermöglichen. In welche Richtung die Gesellschaft sich verändert, haben wir ja alle täglich mit in der Hand. Dass die Alltagsbeziehungen sehr viel bewirken, ist eine Erfahrung, die viele freiwillige Helferinnen und Helfer in den letzten Monaten gemacht haben.
Es gibt kein Recht auf Einwanderung, aber Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz. Trotzdem befindet sich Deutschland „Was die Flüchtlingspolitik betrifft im Mittelalter“ – so Christopher Hein. Wie konnten wir das Thema so lange aussetzen?
Ich weiß nicht, welche oder wessen Flüchtlingspolitik Christopher Hein hier als mittelalterlich bezeichnet hat, aber es fällt insgesamt auf, dass wenig Regularien entwickelt wurden, um das Wanderungsgeschehen politisch zu gestalten. Die Staaten, auch die EU-Mitgliedsstaaten, verfolgen unterschiedliche Strategien im Hinblick auf Einwanderung und Einbürgerung, alle haben die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, aber die Bereitschaft, ihr praktisch zu entsprechen, variiert erheblich. Dem Thema haftet Spaltungspotenzial an, und ich denke, das ist der Hauptgrund dafür, dass man sich innerhalb Europas immer eher auf die Abschottung und das Grenzregime verständigt hat, d.h. irreguläre Einwanderung zu unterbinden versucht hat, als auf eine konstruktive Ausgestaltung gemeinschaftlicher Einwanderungspolitik. Immerhin scheint die Krise, in die die EU angesichts der aktuellen Fluchtzuwanderung geraten ist, politisch einiges an Klärungsprozessen in Gang zu bringen.
In vielen nordafrikanischen Ländern ist der Gedanke an Flucht angeblich längst zum Teil der Jugendkultur, zum Lebensgefühl einer ganzen Generation geworden. Wie kann man hier eingreifen und sagen: So toll ist es bei uns auch wieder nicht …? Oder lässt sich diese Entwicklung nicht aufhalten?
Ob das zutrifft, dass Fluchtüberlegungen Teil einer Jugendkultur sind, kann ich nicht beurteilen. Dass es das Lebensgefühl vieler junger Menschen in Algerien, Marokko oder Ägypten ausmacht, keine Chance auf eine erfolgreiche „Normalbiographie“ zu haben, mag aber durchaus sein. Viele junge Leute finden dort trotz guter Ausbildung keinerlei Erwerbstätigkeit und sehen daher auch keine Möglichkeit, sich auf eigene Füße zu stellen und eine eigene Familie zu gründen. So zu tun, als wäre es bei uns auch nicht toll, scheint mir da wenig aussichtsreich und auch nicht glaubwürdig. Die ganze Situation zeigt, warum es so wichtig ist, politisch an den Fluchtursachen in den Herkunftsregionen anzusetzen und die zivile Krisenprävention zu stärken. Deutschland und die EU sind an der Entstehung einer Reihe von Fluchtgründen nicht unbeteiligt gewesen. Fluchtursachen zu bekämpfen, heißt daher auch, die eigene Außen- und Wirtschaftspolitik unter diesem Blickwinkel auf den Prüfstand zu stellen.
Migration und Integration gelten als die gesellschaftspolitischen Lebensfragen unserer Gegenwart und Zukunft. Die Deutschen scheinen sich aber nur sehr unwillig darauf einzustellen (Können Sie dem zustimmen?) Woher kommt dieser Widerstand?
Ich sehe das gar nicht so! Man muss politische Erklärungen von dem unterscheiden, was in der Bevölkerung an Einstellungen vorhanden ist. Der deutsche Sachverständigenrat für Migration und Integration hat in seinen Repräsentativbefragungen seit Jahren festgestellt, dass die Bereitschaft zu einer breiteren Zuwanderung – nicht nur der „besten Köpfe“ – in Deutschland viel größer ist als die in diesem Bereich sehr zögerliche Politik vermuten ließe. Das Phänomen der „Willkommenskultur“ hat das bestätigt. Es kommt jetzt allerdings darauf an, dass der weitere Prozess der Integration konkret konzipiert, personell und infrastrukturell ausgestattet und offen diskutiert wird, auch mit Blick auf die Konflikte und Problemlagen, die er erzeugt oder erzeugen kann.
Brauchen wir ein neues, europäisches Asylrecht?
Wir brauchen ein Ende des nicht funktionsfähigen Dublin-Systems und verbindliche Regelungen für eine Asylpolitik, die Solidarität mit den Schutzsuchenden und innerhalb der EU gewährleistet.
Mit den Menschen kommen auch soziale, religiös-kulturelle Probleme und ein enormes Konfliktpotential nach Deutschland (Stichwort: Silvester, Köln). Müssen – oder können Spielregeln für den (deutschen, westlichen) Alltag allgemeingültig festgelegt werden?
Die Grenzen sind in unserer Rechtsordnung festgehalten, und die gilt es auch allen Neuankömmlingen zu vermitteln. Ich denke allerdings, dass man mit Erklärungen, bestimmte Straftaten hätten einen religiös-kulturellen Hintergrund vorsichtig sein sollte. Die Ereignisse der Silvesternacht muss man offen und auf Basis der Fakten diskutieren, aber man sollte auch dabei nicht vergessen, dass die meisten jungen Männer mit einem vergleichbaren Hintergrund nicht sexuell übergriffig werden, d.h. als Erklärungsfaktor genügt das einfach nicht.
Von diesem Spezialthema einmal abgesehen, sind die Spielregeln einer Gesellschaft immer in Fluss und betätigen wir alle uns ständig mit daran, im sozialen Alltag zu verhandeln, was geht und was nicht. Wir begreifen heute andere Dinge und Verhaltensweisen als normal, legitim und statthaft als es vor 60 Jahren der Fall war. Das ist das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, und die gehen weiter – mit und ohne Zuwanderer. Allgemeingültig bestimmen, was unsere Spielregeln sind, kann man im Rahmen der freiheitlichen Ordnung nicht, aber innerhalb des rechtlichen Rahmens gibt es den Spielraum zur öffentlichen Aushandlung, den man nutzen kann.
Interview: Bettina Wolf // Foto (Sabine Mannitz): HSFK. Foto (Flüchtlingslager): Istock
ein sehr interresanter und aufklärende Bericht, danke