Sind Jungen die Bildungsverlierer von heute? Die kriminellen Täter von morgen? Wilde Störenfriede? Ruhiggestellte Opfer? Nein. Jungen sind etwas Wunderbares. Eine Liebeserklärung.
„Ich bin der Stärkste der Welt!“, pöbelte mein zarter dreijähriger Sohn in die Stille des Morgenkreises hinein. Wir waren mitten in der Kindergarten-Eingewöhnungsphase und er wich mir kaum von der Seite. Am liebsten saß er auf meinem Schoß und betrachtete das Gewusel. So sieht also der Stärkste der Welt aus? Die anderen Kinder schauten zweifelnd … Wenn mein Sohn doch mal Kontakt suchte, dann mit viel Radau. Mit lautem Gebrüll, mit Rangeleien, mit Rangordnungskämpfen.
Ich war mehr als gestresst. Hatte ich doch schon eine dreijährige Spielplatz-Kampf-Arena-Karriere hinter mir und zahllose Streitigkeiten mit anderen Eltern.
„Kannst Du ihn nicht mal besser erziehen?“ – fragte selbst seine Patentante vorsichtig an. Und sie stand nicht allein da mit ihrer Einschätzung, dass unser Sohn einfach nur wild und ungezogen sei. Bei einer Einladung von guten Freunden anlässlich eines wunderbar dekorierten Sommerfestes, sprang der fast Vierjährige voller Lebensfreude mitten ins Geschehen und riss als Erstes dem Gastgeber seinen hübschen neuen und ganz bestimmt teuren Strohhut vom Kopf. Den von jenen Gastgebern vorgesehene und eingezäunte Bereich für Kinder wurde von ihm ignoriert. Unnötig zu sagen, dass wir bei diesen Freunden nicht mehr eingeladen wurden.
Abgesehen davon, dass ich es sowieso als zu anstrengend gefunden hätte, meinen wilden Sohn ein weiteres Mal zu formellen Festivitäten mitzunehmen, konnte ich doch die leise bohrende Frage nicht unterdrücken: Kann er nicht mal „normal“ spielen? Ruhig, angepasst und doch kreativ? So wie ein … Mädchen vielleicht? Warum so laut und so unkoordiniert. Und warum immer mit so viel Konfliktpotential. Warum immer an die Grenzen gehen und darüber hinaus? Da konnte die zu Rate gerufene Psychologin mir hundert Mal versichern: „Das ist nur seine Art der Kontaktaufnahme“. Genützt hat mir das nichts – wenn andere Eltern auf dem Spielplatz unruhig wurden, sobald er mit Eimer und Schaufel angestiefelt kam und sein Revier „checkte“. Ich kann seiner Kindergarten-Erzieherin gar nicht genug dafür danken, dass sie ihn nicht nur völlig normal fand, sondern auch in seiner Art einfach machen ließ. Natürlich auch alle anderen Jungen in seinem Kindergarten. Und als es nach drei Jahren Kindergartenzeit Richtung Einschulung ging, war es ein wilder Haufen von kraftstrotzenden Jungs, die so richtig viel Blödsinn im Kopf hatten. In Bullerbü wären sie gar nicht aufgefallen. In der ersten Klasse einer ganz normalen deutschen Grundschule dafür umso mehr.
Die Welt ist für Jungen eng geworden. Und langweilig. Was ihnen Spaß macht, ist fast immer verboten. Was sie besonders gut können, wird nirgends verlangt – speziell nicht in der Schule. In der pädagogischen Welt hat sich scheinbar alles verschworen, ihnen ihre „männlichen“ Eigenschaften abzugewöhnen. Jungen werden unruhig dabei, fahrig und eine immer größere Zahl sogar seelisch krank, hyperaktiv oder depressiv. Jungs haben schlechtere Noten als Mädchen und besuchen seltener ein Gymnasium. Nicht nur die Pädagogen haben eine stark problematisierte Sichtweise auf Jungen. Sondern auch wir Eltern. Schnell sind Diagnosen wie krank, labil, unkonzentriert ausgesprochen. Und werden dankbar angenommen. Das scheint einfacher, als sich mit dem Phänomen „Jungen“ zu beschäftigen, oder einfach zu akzeptieren, dass sie etwas anderes brauchen. Als Mädchen.
Ein Junge zu sein hat sich in den letzten 40 Jahren dramatisch verändert. Notwendigerweise, denn das überholte Bild der Männlichkeit machte auch einen neuen Blick auf die Kindheiten von Jungen nötig. Das explizit Männliche in ihren Söhnen unbefangen zu lieben, ist für heutige Mütter schwer bis unmöglich. Das ist auch ein Resultat des Feminismus. Für Mädchen wurden alle nötigen Rechte erkämpft, aber die Männer nicht mit einbezogen. Und auch deshalb hat die Gesellschaft eine kritische Einstellung zu dem, was wir immer noch unter Männlichkeit verstehen. Denn, durften die Jungen – in unserem Kindergarten – noch wild und ungestüm sein, so war das mit der Einschulung vorbei. Phantasievolle, wilde Spiele sollten schlagartig gegen das konzentrierte Ausmalen winziger Kästchen ausgetauscht werden. Keine Überraschung, dass nach einem halben Jahr die Hälfte der Jungs-Eltern beim Kinderarzt saß. Die „Drohung“ Ritalin schwang
unheilvoll im Raum. Wie viele der wilden Schulanfänger am Ende tatsächlich damit ruhig gestellt wurden, konnten die anderen Eltern nur vermuten.
Dass unser Bildungssystem systematisch Ungerechtigkeiten für Jungen produziert, dass es Jungen zu Bildungsverlierern werden lässt, ist empirisch längst nachgewiesen. Jungen brechen häufiger die Schule ab. Sie werden häufiger kriminell. Sie haben schlechtere Noten. Es gibt aber auch Studien, die belegen, dass Jungen bei gleicher Leistung schlechter bewertet werden als Mädchen.
„Jungen hatten schon immer ein größeres Bewegungsbedürfnis. Sie waren schon immer unruhiger, wenn sie so wollen wilder“, erklärt Prof. Martin Dinges von der Universität Mannheim. „Dass es heute so auffällt, liegt auch daran, dass sich die Bewegungsräume für Kinder stark verengt haben. Kinder können sich heute fast nicht mehr frei bewegen. Die Straße ist als Spielfeld weggefallen, es gibt keine unbebauten Räume mehr für sie zu erkunden. Die Wildheit verlegt sich immer stärker in die Räume einer durchgeplanten Kindheit. Und das beginnt bereits im Kindergarten. Die Eltern fahren ihre Kinder mit dem Auto zur Kita, statt auf dem Weg dahin etwas Energie und Kraft abbauen zu lassen.“
Aber reicht das als Erklärung aus, warum es Jungen heute anscheinend so viel schwerer haben als Mädchen? Warum sie als die Bildungsverlierer gelten? „Hier kommt die geschlechtersensible Pädagogik ins Spiel, erklärt Prof. Dinges. „Die meisten Schulanfänger haben eine weibliche Lehrkraft. Und die sind nicht selten genervt von den Energiebündeln in der ersten Bank. Wer sich heute wie ein „typischer Junge“ aufführt, wird als hyperaktiv, aggressiv oder sozial defizitär wahrgenommen und entsprechend behandelt. Und das ist die eigentliche
Katastrophe. Diese Hypermedikalisierung. Diese gigantische Zunahme an Ritalinverschreibungen, die in keinem Verhältnis zur behandelnden Situation steht. Die Jungen zum Spielen auf die Straße zu schicken wäre doch die naheliegende Antwort auf das Problem, weniger Fernsehen die zweite Maßnahme, eine Verhaltenstherapie die dritte und so weiter. Ritalin dient zum einen natürlich der Pharmaindustrie – zum anderen unterstützt es unser auf Stillsitzen ausgelegtes Schulsystem.“
Und jetzt? Was muss sich ändern, brauchen wir eine explizite Jungenpolitik? „Vielleicht ja“, so Martin Dinges. „Es gibt hier tatsächlich Nachholbedarf. Aber ganz banal auf der Ebene eines vernünftig verstandenen Gendermainstreamings. Nämlich: ‚Was brauchen Jungen‘ und ‚Was brauchen Mädchen‘, damit Mädchen und Jungen ihre jeweils individuell besten Entwicklungschancen bekommen.“
Heute ist mein Sohn zehn Jahre alt. Und ich muss zugeben, dass mir ohne die Erfahrung, einen Sohn zu haben, der die Welt erobern will, diese Hälfte der Welt fehlen würde. Dieses komplexe Geflecht von Codes, Geheimwissen und einem völlig anderem Blick auf die Dinge. Und zu der puren Freude, einen Sohn zu haben, kommt die Erkenntnis, was ich ohne Sohn nie erfahren hätte. Was mir entgangen wäre. Die Namen sämtlicher Dinosaurier. Dass man auch mit einer sperrigen Sammlung von sorgfältig gesammelten Holzstöcken umziehen kann und
muss. Dass man viele Stunden vor einer Baustelle verbringen kann und am Ende tatsächlich einen „Lieblings-Bagger“ hat. Dass man gleichzeitig ein mutiger Eroberer und ängstlich sein kann, ohne dass das ein Widerspruch ist.
Text: Bettina Wolf // Bild: Christopher Badzioch
Wunderbar! Danke, einfach nur danke für diesen Artikel …