2015 wurde der Herausgeber, Autor und ehemalige Verlagsleiter von Beltz&Gelberg Hans-Joachim Gelberg 85 Jahre alt. Seine Verdienste um die moderne Kinder- und Jugendliteratur und speziell die Kinder-lyrik sind enorm. Ein guter Grund für StadtLandKind, um sich mit Hans-Joachim Gelberg über sein Leben und natürlich über die Literatur zu unterhalten.
Lieber Herr Gelberg. Sie haben mal gesagt: Zu einer glücklichen Kindheit gehören gute Kinderbücher. Heißt das, ohne gute Kinderbücher sind unsere Kinder unglücklich?
Nein. Das heißt es natürlich nicht. Aber, es ist etwas, woran wir uns später erinnern können. Gute Kinderbücher kann man immer wieder vorgelesen bekommen, ohne dass es langweilig wird. Nehmen Sie nur mich als Beispiel: in meinem Leben gab es immer wieder Schlüsselsituationen mit Büchern. Ich kann sogar sagen: Bücher haben das Leben meiner Familie gerettet!
Meinen Sie das im übertragenen Sinn?
Im reellen Sinn. Sie müssen wissen, mein Vater war vor und im Krieg und auch danach Postbeamter. Wir lebten damals in Wien. Ich war als Kind in der Hitlerjugend und es hat mir sehr gut gefallen. Die Fahrten. Die Fahnen. Die Lieder. Der Dolch an der Seite, das war alles toll. Als Kind wusste man nichts von den Grausamkeiten dahinter. Aber ich schweife ab …
Das Leben Ihrer Familie …
Stimmt. Nach dem Krieg – wir lebten damals in Wien – kamen die Russen und durchsuchten jedes Haus nach Waffen. Auch mein Vater hatte eine Pistole. Wir lebten damals in einer sehr schönen großen Wohnung mit Kachelöfen in jedem Zimmer. In der Aufregung bat mich mein Vater, die Pistole zu verstecken. Mir fiel natürlich nur ein Kachelofen ein. Als die russischen Soldaten dann kamen, durchsuchten sie als Erstes die Kachelöfen. Doch auf dem Weg zu dem Ofen, in dem die Waffe versteckt war, kam der Offizier an unserem Bücherschrank vorbei. „Ahhh“, sagt er: „Tolstoi! Dostojewski! Toll!“ Und dann gingen sie wieder.
Und Ihre Begeisterung für Worte, für Bücher, wann begann die?
Nach dem Krieg sind wir bei meiner Tante Zilly in Lüdenscheid untergekommen. Tante Zilly hatte eine etwas zickige Tochter Adelheid. Die ich immer geärgert habe. Aber das nur nebenbei. Tante Zilly war eine der wichtigsten Menschen meines Lebens. Sie hatte bei Heidegger studiert und ich durfte in ihrer Bibliothek schlafen. Die gesamte Weltliteratur war in ihrem Bücherschrank – nur Tucholsky und Karl Kraus fehlten. Tante Zilly liebte Stifter. Ich übrigens auch, bis heute.
Begann damals schon Ihr Weg zur Kinderliteratur?
Es gab damals keine Kinderbücher. Die Nazis hatten ja die gesamte deutsche Intelligenz umgebracht oder ins Ausland vertrieben. Kästner durfte nicht schreiben. Und die Kinderbücher, die es damals gab, waren verseucht. Mein Interesse daran, Kindern Literatur zugänglich
zu machen, begann in der großen Aufbruchsphase Ende der 1960er Jahre. Alles war im Umbruch. Auch der Blick auf die Kinder begann sich komplett zu verändern. Eine meiner ersten preisgekrönten Sammlungen hieß „Stadt der Kinder“. Das Buch gilt bis heute als Keimzelle der neuen Kinderlyrik. Illustrieren ließ ich das Buch von Janosch.
Sie und Janosch sind bis heute befreundet, heißt es?
Ja, das stimmt. Früher hatten wir natürlich mehr Kontakt. Ich rufe ihn aber immer noch regelmäßig an. Als er noch in München lebte, jammerte er immer über seine Probleme mit Frauen. Dann musste ich hinfahren und schlichten. Wenn wir heute Kontakt haben, dann klagt er: „Meine Hand ist ganz steif. Bald kann ich nicht mehr zeichnen!“. Er jammert immer. Ich beruhige ihn dann. Das waren schon damals unsere Rollen.
Gedichte für Kinder ist eine Ihrer Leidenschaften. Ist es schwierig, für Kinder passende Gedichte zu finden?
Kinder würden nie von sich aus ein Buch mit Gedichten kaufen. Den Eltern muss es gefallen. Kinder lassen sich für fast alles begeistern, wenn die Erwachsenen begeistert sind und es entsprechend vermitteln.
„Wo kommen die Worte her“, heißt einer Ihrer letzten großen Gedicht-Anthologie. Wo kommen nun die Worte her?
Einmal im Monat mache ich Lesungen in der Schule um die Ecke. Die 4. Klasse sollte „Worte suchen“. Jedes Kind durfte sein Lieblingswort beitragen. Ein Junge wollte unbedingt LKW. Nicht alle Wörter waren also schön. Aber aus den 26 Wörtern wurde am Ende eine Geschichte. Und als ich sie vorgelesen habe, waren die Kinder ungeheuer stolz. Ihr Wort in einer Geschichte! Sie hatten ein echtes Erlebnis mit Sprache.
Wann begann eigentlich Ihre Zeit beim Beltz Verlag?
In den 70er Jahren. Der Bereich der Kinderliteratur bekam den Programmnamen Beltz&Gelberg. Ab da war ich so eine Art King der Kinderliteratur. Ich habe viel mit jungen Autoren gearbeitet und viele Illustratoren entdeckt.
Und die Kinderliteratur heute?
Ich schaue da nicht mehr so genau hin. Ich habe lieber „Erwachsenenkinderbücher“ gemacht, um Kindern große Literatur anzubieten. Literatur, die ihren Verstand und ihre Sinne anregt, das war meine Absicht.
Und das leisten die Kinderbücher heute nicht mehr?
Zum Teil. Man muss Kinder ernst nehmen und Bücher machen, die auch Erwachsene lesen können, ohne sich zu langweilen.
Mögen Sie den Grüffelo?
Natürlich habe ich auch Spaß an einem Grüffelo. Das Kleine besiegt das Große. Das hat doch Brecht’sche Dimensionen. Kennen Sie dieses wunderbare Gedicht, warten Sie, ich zitiere: „Am Grunde der Moldau, es wandern die
Steine …“
Das ist wirklich sehr schön. Und kennen Sie eigentlich „Conny“?
Nein.
Ein Mädchen, das in vielen Alltagssituationen abgebildet wird. Sie geht mal in die Musikschule, mal zum Reiten, mal übernachtet sie bei ihrer Freundin.
Das ist sicher reizvoll. Aber, wissen Sie, man mutet den Kindern heute nicht mehr so viel zu. Kinderbücher sollen eben nicht nur unterhalten. Oder, noch schlimmer, den Eltern beim Erziehen helfen. Das finde ich unerträglich. Was interessiert mich, ob irgendein Kind
„schön aufräumt“? Zum Glück verdauen Kinder viel, ohne Schaden zu nehmen. Aber warum achten die Eltern nicht – wie beim Essen – auf die Qualität der Worte und der Bilder?
Kann man Kinder heute noch für große Literatur begeistern?
Ja, natürlich. Das liegt gar nicht so sehr nur an den Büchern. Sondern auch an den Situationen, den Zufällen. Man bräuchte eben eine Tante Zilly, die Stifter liebt. Dann gelingt es.
Interview: Bettina Wolf // Fotos: Simon Hofmann