Folge XVI: Spritztour gefällig?
Es kracht kurz, dann wird das Radio leiser gestellt. „Hallo?“, sagt Tina am anderen Ende der Leitung. „Ich bin im Auto. Ich hab‘ die Freisprechanlage angestellt“, sagt sie und es hört sich an, als ob sie sich gerade in einem West- oder Ostflügel eines Palastes befindet. „Ist denn noch jemand außer dir im Auto, der über 18 Monate als ist, oder kann ich frei erzählen?“, frage ich Tina. Im Hintergrund höre ich Paulina vor sich hinbrabbeln. „Mama, Mama, Mama“, schallt es von der Rückbank. Paulina scheint irgendwas ungeheuer Spannendes entdeckt zu haben und möchte es ihrer Mama unbedingt zeigen.
Momente wie diese sind momentan Tinas und mein einziger Kontakt, denn Beruf, Familie und Verpflichtungen müssen unter einen Hut gebracht werden. So nutzen wir jede Gelegenheit, um im Leben der anderen up to date zu sein – auch in Sachen Paulina.
Paulina ist inzwischen 18 Monate alt und erweitert ihren Radius fast von Tag zu Tag – und das am liebsten auf vier Rädern. Aber nicht auf dem Rücksitz von Mamas Auto oder gar im Kinderwagen. Die Zeiten gehen langsam aber sicher vorbei. Paulina hat ein neues Höllengefährt entdeckt: einen Wutsch. Ok, ich gebe zu, als mir Tina davon erzählt, muss ich dieses Wort erst einmal googeln, von dem ich nicht einmal weiß, wie man es genau schreiben soll. Aber nach 0,40 Sekunden werden mir 211 000 Ergebnisse ausgespuckt. Ein gefragtes Teil also. Und Paulinas Freunde haben auch jeweils einen davon in ihrer Garage stehen.
„Sie fährt auf dem Wutsch, eine Vorstufe zum Dreirad, aber mit vier Rädern. Das muss natürlich beim allabendlichen Spaziergang mit. Sie wird dann nicht mehr geschoben, sondern fährt am liebsten selbst – ist ja klar“, sagt Tina und ich höre das Ticken des Blinkers. Sie sind auf dem Nachhauseweg vom Schwimmbad. „Ihre Freunde aus der Nachbarschaft haben auch einen. Gemeinsam fahren sie dann auf den Gehwegen hin und her“, sagt Tina.
Neben dem Schwimmen hat Paulina eine weitere Leidenschaft für sich entdeckt: Das Tanzen, das bei ihrer Turnstunde in einem Verein nicht zu kurz kommt. „Seit neuestem tanzt sie wie wild und kann die Tänze schon auswendig, wie zum Beispiel 1,2,3 im Sauseschritt.“ „1, 2, 3, was nochmal?“, frage ich Tina, die mir nur mit einem herzhaften Lachen antwortet. Zusammen mit ihrer Tochter tanzt Tina oft zusammen im Wohnzimmer. „Manchmal denke ich, hoffentlich sehen uns die Nachbarn nicht“, sagt sie und lacht. Es wäre aber auch zu schade, wenn man das verpassen würde und kann mir die beiden bildlich vorstellen.
„Heiß“, höre ich Paulina sagen. „Hast Du das gehört? Das ist zu einem ihrer Lieblingswörter geworden“, erklärt mir Tina und hält an einer roten Ampel an. „Sie sagt es ständig. Seit neuestem versteht Paulina auch Spanisch“, sagt Tina stolz, hatten sie und ihr Mann Markus es sich doch vorgenommen, ihre Tochter zweisprachig zu erziehen – ein bisschen jedenfalls.
Ich: „Was kann sie denn schon verstehen?“
Tina: „Wenn Markus zu ihr sagt ‚pica los ojos’, also ,zwinkere mit den Augen‘, dann macht sie das.“
Oder auch wenn Papa sie auf Spanisch fragt, wo Paulinas Hand und Kopf ist, dann klappt das meistens auch. Sie versteht es langsam, erklärt Tina und biegt in die nächste Straße ein.
Paulina: „Mama, Mama, Mama.“
Tina: „Was ist denn, Schatz?“
Ich lausche dem kleinen Dialog zwischen Tina und ihrer Tochter, der aber an dieser Stelle auch schon aufhört, denn Paulina fehlen noch ein paar Wörter. So zeigt sie auf etwas, das ich in diesem Moment natürlich nicht sehen kann. „Mama, Mama“, folgt wieder kurz darauf.
Tina: „Sie merkt, dass ich gerade mit dir spreche, möchte aber lieber, dass ich ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke.“
Und das kommt immer öfter vor. So nimmt Paulina immer öfter Mamas Kopf in ihre kleinen Hände und zieht Mamas Kinn zu sich, während sie auf Mamas Arm sitzt und sich die Erwachsenen unterhalten. Schließlich möchte sie ja, dass Tina ihr zuhört, wenn sie etwas Neues entdeckt hat, das sie ihr unbedingt zeigen muss.
„Brrrrrrr“, höre ich Paulina auf dem Rücksitz. „Das soll ein Pferd sein“, schiebt Tina als Erklärung schnell hinterher. „Das war übrigens das Interessanteste für Paulina am Martinszumug: St. Martin beziehungsweise sein Pferd. Sie liebt Pferde und macht ständig ihre Geräusche nach“, sagt Tina. So spielt sich an manchem Abend folgende Szene im Wohnzimmer der Familie ab: Wenn nach dem Abendessen noch ein bisschen Essen übrig ist, dann steht Paulina vom Tisch auf und hält dem Schaukelpferd ihre kleine Hand voll Brot oder Gurken unter die Nase, um es zu füttern. „Ich darf es dann wieder aufheben“, sagt Tina.
Ich: „Wie war denn euer Martinsumzug? Hat es Paulina gefallen?“
Tina: „Es war ja sogar schon Paulinas zweiter Umzug. Letztes Jahr hat sie es fast verschlafen, aber sie war ja auch erst ein halbes Jahr alt. Dieses Jahr war es anders und es war sogar Markus mit dabei. Das Dunkle, die vielen Lichter und Menschen, vielleicht hat ihr das alles ein bisschen Angst gemacht. Ich glaube, dass sie nächstes Jahr den Martinsumzug ganz anders wahrnehmen wird. Dieses Mal wollte sie einfach nicht von meinem und Markus Arm runter. Also haben wir sie abwechselnd getragen, den leeren Kinderwagen geschoben und die Laterne gehalten …“
Während Tina im Auto sitzt und von A nach B fährt, fallen mir viele gemeinsame Autofahrten mit ihr ein – aber nicht am Telefon, sondern ganz echt, live und in Farbe. Die meisten dieser Spritztouren haben wir gleich nach dem Bestehen der Führerscheinprüfung gemacht. Paulina ist heute auf den Tag genau 18 Monate alt und sitzt quitschvergnügt im Kindersitz. Aber wie wird es einmal sein, wenn sie nicht mehr 18 Monate, sondern 18 Jahre alt ist, frage ich mich.
Ich: „Wie stellst Du dir Paulina mit 18 Jahren vor?“
Tina wundert sich erst über diese Frage, hat sie mir doch eben erst von einem kleinen, leuchtenden Gespenst erzählt. Dann gibt sie mir doch eine Antwort und Paulina macht sich lautstark bemerkbar. Sie scheint zu merken, dass sie bald zu Hause sind.
Tina: „Puh, das ist schwierig zu sagen, aber ich hoffe, dass sich ihre Dickköpfigkeit ein bisschen legt. Denn wenn sie etwas nicht bekommt, was sie will, dann zeigt sie das – und das kann sehr laut werden. Aber ich kann dich beruhigen, das ist bei fast allen Kindern in diesem Alter so.“
Ich lasse unser Abijahr Revue passieren und frage mich, ob wir denn damals mit 18 Jahren noch oder schon oder überhaupt dickköpfig waren. „Vielleicht setzt sich aber auch ihr südländisches Temperament durch, dann kann es spannend werden“, sagt Tina.
Viele ihrer kleinen Freunde wohnen bereits in Paulinas Nachbarschaft. „Wenn das so bleibt, freut mich das sehr. Denn dann wissen wir, dass auf jeden Fall auch ein paar Jungs mit Paulina unterwegs sind, die sie dann ganz gentlemanlike nach Hause begleiten, wenn sie auf einer Party waren. So ist jedenfalls meine Hoffnung“, sagt Tina und lacht. Unsere Eltern hatten wahrscheinlich die gleiche Hoffnung, denke ich mir. Doch leider wurden sie da mehr als einmal enttäuscht. Unzählige Male saß mein Papa im Schlafanzug im Auto und hat uns von Geburtstagsfeiern irgendwo in der Pampa abgeholt, obwohl er eigentlich lieber geschlafen hätte. Er war eben der einzige Gentleman, der weit und breit zu finden war – und einen Führerschein hatte. (Anmerkung: Papa, wenn du das hier liest: Du hast was gut bei mir). Ob das Markus auch einmal blühen wird? Wer weiß. Zum Glück gibt es ja eine Sitzheizung für kalte Nächte. Paulina klatscht derweil in die Hände und scheint sich über irgendetwas zu freuen.
„So, wir sind jetzt zu Hause“, sagt Tina und stellt den Motor ab. „Wir holen jetzt den Wutsch aus der Garage und drehen noch ne Runde. Machs gut. Bis bald.“
Von Ann-Kathrin Weber
Zur Autorin:
Redakteurin Ann-Kathrin Weber hat zwar selbst noch keine Kinder, schreibt aber besonders gern über Kinderthemen. Für StadtLandKind hat sie ihre Freundin Tina durch die Schwangerschaft begleitet und besucht ab sofort Baby Paulina und ihre Eltern einmal im Monat für uns.