Liebe Frau Heise, in unserem Beitrag (https://www.stadtlandkind.info/im-spektrum/)beschreiben Sie, wie schwer es ist, als Autistin in einer Welt zurechtzukommen, die auf die Bedürfnisse von neurotypischen Menschen, also Nicht-Autisten ausgelegt ist. Was würden Sie sich konkret von der Gesellschaft wünschen?
Nicht nur speziell für Autisten, sondern sicherlich für viele Menschen mit Behinderungen wäre zunächst eine konsequente Umsetzung der UN-BRK in Deutschland hilfreich. Diese Behindertenrechtskonvention ist seit nunmehr 10 Jahren in Kraft – getan hat sich seither nicht viel. Andersartigkeit sollte kein Makel mehr sein, der oftmals Unsicherheit und Ablehnung bei Nicht-Behinderten hervorruft. Aufklärung und Inklusion könnten viel zu einem besseren Umgang miteinander beitragen. Inklusion ist sowohl vielen Entscheidungsträgern als auch großen Teilen der Bevölkerung leider nur wenig bewusst. Dabei könnte sie vielen Behinderten eine bessere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Vermeidbare Barrieren in die Öffentlichkeit zu beseitigen, trägt entscheidend zur Lebensqualität behinderter Menschen bei.
In Irland können Autisten bei LIDL reizarm einkaufen
Das fängt dabei an, dass es der Deutschen Bahn immer mal wieder schwerfällt, Menschen die auf Rollstühle angewiesen sind, von A nach B zu transportieren, weil zum Beispiel die Hebelifte nicht bedient werden können oder Fahrstühle nicht in Betrieb sind. Es geht weiter damit, dass man noch immer nicht alles barrierefrei per Mail klären kann, sondern um Termine zu vereinbaren, oftmals auf das Telefon verwiesen wird. Und geht über in reizüberflutete Supermärkte und ähnliche Einkaufsgelegenheiten. Überall wird man zwangsbeschallt mit Musik, Gepiepe, Gescheppere und ähnlichem. In anderen Ländern (z.B. Lidl in Irland) nimmt man, was die Reize angeht, auf unsere Bedürfnisse Rücksicht. Es gibt dort spezielle Einkaufszeiten für Autisten, um Ihnen diese alltäglichen Aktivitäten zu erleichtern. Musik wird ausgestellt, Lautsprecherdurchsagen vermieden, das Licht im Geschäft reduziert und das Piepen an den Kassen deutlich runtergeregelt. Ich möchte nicht schräg angeschaut werden, wenn ich auch im Geschäft meine Sonnenbrille auflasse, weil mir alles zu grell beleuchtet ist. Das hat nichts mit Respektlosigkeit meinerseits zu tun, sondern mit Selbstschutz. Ich möchte mich gut in meiner Umgebung bewegen können, ohne schnell in einen vermeidbaren Overload zu geraten und ohne mich erklären zu müssen, warum ich diese Hilfen benötige. Es sollte selbstverständlich sein, dass wir gut leben können und mit unseren Bedürfnissen respektiert werden, wie nicht-autistische Menschen eben auch. Dieses Umdenken kommt letztlich auch anderen Menschen zu Gute, nicht nur allein uns Autisten.
In der ersten Version des Textes stand noch, dass Kinder an Autismus „leiden“. Dies haben Sie kritisch hinterfragt und um Korrektur gebeten. Was stört Sie an dem Zusatz leiden? Für viele Betroffene ist es doch durchaus eine schwierige Situation?
Natürlich habe ich es als Autistin nicht immer leicht, das heißt aber nicht, dass ich permanent und per se leide. Leid wird eher durch unnötige Reize der Umwelt und den teilweise verständnislosen Umgang der Mitmenschen verursacht, als durch den Autismus selbst. Ob und wie stark jemand leidet, ist außerdem individuell verschieden und von vielen Umweltfaktoren abhängig. Diese Zuschreibung ‚leiden an…‘ ist außerdem etwas von außen übergestülptes. Das Wort „leiden“ erweckt auch einen falschen Eindruck. Autismus ist keine Krankheit, sondern eine Behinderung mit der man umgehen lernt. Wir Autisten wollen kein Mitleid, sondern wünschen uns Respekt, Akzeptanz und Verständnis für unsere Bedürfnisse.
Sie sind eine entschiedene Gegnerin bekannter Autismus-Therapien. Was ist so negativ daran, dass Kinder lernen sollen, sich in der Welt zurechtzufinden, zu lernen Berührungen und Augenkontakt auszuhalten?
Ich bin lediglich gegen bestimmte Therapien, die auf zwangsweiser Anpassung statt auf individueller Förderung beruhen. Vor allem gegen ABA (Applied Behavior Analysis) und ähnlich normierende Therapieformen. Unterstützende und wertschätzende Therapien sind davon deutlich abzugrenzen. Daher sollten Eltern angebotene Behandlungsmethoden kritisch prüfen und nicht blind irgendwelchen Hochglanzprospekten von Therapie-Anbietern vertrauen. Kinder können sich nicht wehren, aber informierte Eltern können die langfristigen Folgen abschätzen. Daher sollten sie sich an Erfahrungsberichten und Einschätzungen erwachsener Autisten orientieren. Sehr viele, wie auch ich, sind gern bereit Fragen zum Thema Autismus zu beantworten. Denn wir bieten die Innensicht. Wir waren auch einmal diese kleinen Kinder und kennen die Schwierigkeiten aus eigener Erfahrung. Was dauerhafte Kompensation und Maskieren bei Autisten anrichten kann: Autistischer Burnout, Depressionen und ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko im Vergleich zur nichtbehinderten Bevölkerung. Das ist alarmierend und erschreckend.
Autisten weltweit lehnen ABA ab. Die Therapieform zielt z.B. darauf ab, dass Kinder nicht mehr autistisch wirken. „Falsches Verhalten soll gelöscht werden.“ Aber: Autismus ist nicht heilbar.
Die Kinder lernen lediglich Gehorsam, Unterdrückung ihrer Bedürfnisse, zu maskieren und zu kompensieren. Sie funktionieren nach außen, werden aber im Inneren gestresst und langfristig gebrochen. Im Elternhaus habe ich Ähnliches am eigenen Leib erlebt. Kinder sind schließlich von ihren Bezugspersonen abhängig. Sie sehnen sich nach Liebe und Zuneigung – also tun sie alles, was von ihnen verlangt wird um zu überleben. Das ist ein Urinstinkt, den jeder in sich trägt. Doch kann es wirklich das Ziel sein, dieses Urvertrauen zu zerstören?
Leider gehen einige Therapie-Anbieter mittlerweile dazu über, nicht mehr ‚ABA‘ als solches zu benennen. Eine Liste der alternativen Bezeichnungen unter denen ABA nun beworben wird findet man unter: autismuskeepcalmandcaryon.wordpress.com/2017/12/02/viele-namen-eine-grundlage/ Sie nennen ihre anpassenden und normierenden Therapien anders, denn der Begriff ‚ABA‘ wird dank der anhaltenden Proteste der autistischen Community, mittlerweile kritisch hinterfragt. Deshalb fördert die Aktion Mensch nun auch solche Projekte nicht mehr, die diese unmenschlichen Therapien beinhalten.
Dinge einfach aushalten zu lernen bringt uns Autisten keinen Vorteil. Lediglich dem Umfeld.
Das private Umfeld muss sich mitverändern. Eltern sollten sich ggf. auch ihre Trauer eingestehen und verarbeiten, dass sie kein ’normales‘ Kind haben. Es muss herausgefunden werden, was die Ursachen für „Overloads“ oder „Meltdowns“ sind, ansonsten kehren diese immer wieder. Verständnis für das autistische Kind und auch Autismus an sich sind unerlässlich. Würden Sie gerne etwas aushalten müssen, was Ihnen womöglich physische Schmerzen verursacht? Reize auf der Haut können unter Umständen schmerzhaft sein. Zum beispiel das Duschen – all die kleinen einprasselnden Wassertröpfchen – es fühlt sich an wie kleine Nadelstiche. Baden oder eine sogenannte Regendusche, bei der die Tropfen weicher fallen, wären stattdessen Alternativen. Warum wird nur von dem autistischen Kind etwas verlangt (aushalten), was selbst Nicht-Autisten nur sehr ungern tun? Wenn das Kind ertragen muss Berührungen gegen seinen Willen auszuhalten, es nicht ‚Nein‘ sagen darf bzw. ein ‚Nein‘ nicht akzeptiert wird… woher soll es dann wissen, in welchen Situationen es das dann darf, wenn es das schon nicht bei den eigenen Eltern darf? Damit öffnet man möglichem Mißbrauch die Tür.
Augenkontakt ist für eine gute Kommunikation nicht zwangsläufig notwendig. Wichtig ist die Eindeutigkeit der Sprache, damit es nicht zu Mißverständnissen kommt.
Der Weg wie man erreicht, dass Autisten sich in der nicht-autistischen Welt zurechtfinden: Es sollte ohne Zwang von außen geschehen und bestensfalls sogar aus eigener Motivation des Autisten selbst bestehen. Es sollte geschaut werden, dass die Stärken gefördert und nicht das Kind in ein allgemeines Schema gepresst werden.
Ein Schulbesuch ist für viele Autisten ohne entsprechende Therapien gar nicht möglich. Und ohne Schule wird es später keine Möglichkeit geben, einen Beruf zu erlernen. Sollten Eltern trotzdem auf Therapien verzichten?
Woher kommt diese Auffassung, dass ein Schulbesuch ohne entsprechende Therapie gar nicht möglich sei? Autisten brauchen nicht zwangsläufig eine an die Norm anpassende Therapie um beschulbar zu sein oder eine Zukunft zu haben. Es gibt schließlich etliche Autisten die erst im Erwachsenenalter ihre Diagnose erhalten haben. Ich wurde erst mit 28 diagnostiziert, habe Regelschulen besucht und mein Abitur gemacht. Klar, Inklusion oder das Wissen um die Ursachen unserer Schwierigkeiten und damit verbundene Nachteilsausgleiche hätte uns damals auch weitergeholfen. Aber stark vereinfacht zu sagen: Ohne Therapie keine Schule – solche Schreckensszenarien vermitteln betroffenen Eltern ein verzerrtes Bild. Das gilt nicht nur für das Asperger-Syndrom, sondern auch für Kanner-Autisten. Nicht ohne Grund wurden beide Begriffe nun als Autismus-Spektrum zusammengeführt. Das Spektrum ist nicht linear. Es kann nicht in vermeintliches ‚mild‘ und ’schwer‘ eingeteilt werden. All das war früher nur die Außensicht und negierte zugleich die Schwierigkeiten die auch Kinder und Erwachsene mit Asperger-Syndrom haben. Selbstverständlich entwickeln sich auch autistische Kinder. Sie haben ihr eigenes Tempo. Durch die Entwicklungsverzögerung dauert dieser Prozess nur einfach länger oder setzt später ein. „Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Deswegen ist Verständnis für Autismus so unglaublich wichtig.
Welche Alternativen gibt es?
Autismus selbst ist nicht therapierbar / heilbar, man kann aber damit umgehen und verstehen lernen. Unterstützung anstelle von Anpassung sind hier Schlüsselelemente.Ein hilfreiches Therapieangebot, um soziale Kommunikation zu erlernen, ist die Logopädie. Ergotherapie ist für die Grob- und Feinmotorik, Körpergefühl und Handlungsplanung gut geeignet. Eine kognitive Verhaltenstherapie kann auch hilfreich sein. Dies aber eher unter der Prämisse, dass das (schon etwas ältere) Kind selbst mitbestimmen kann, was es verändern möchte. Für den Schulalltag selbst kann ein Schulbegleiter hilfreich sein, der unterstützt. Individuelle Nachteilsausgleiche sind von der Schule im Unterricht und bei Prüfungen ebenfalls zu gewähren.
Mir hat das Lesen des ‚Knigge‘ als Jugendliche sehr geholfen
Was hat Ihnen als Jugendliche geholfen?
Mir hat das Lesen des ‚Knigge‘ als Jugendliche weitergeholfen, obwohl der Autismus noch unerkannt war. Ich empfinde diese dort klar beschriebenen Regeln noch heute als hilfreich. Geben sie doch Struktur im für mich schwer durchschaubaren ‚Sozial-Dschungel‘. Ein verständnisvolles Umfeld hätte mir auch sehr geholfen. Das hatte ich leider so nicht. Mit den Jahren habe ich aber auch selbst (durch schmerzhafte Erfahrungen) gelernt, was man im sozialen Kontext machen kann und was man lieber lassen sollte.
Wie könnte eine Zukunft aussehen, in der Sie als Autistin gut zurechtkommen und auch Ihr berufliches Potential ausschöpfen könnten?
Für eine positive Zukunft: Schauen was mir gut tut. Ich muss schließlich dieses Leben leben. Ich richte mich nicht mehr danach, was andere meinen, was gut für mich wäre. Sie wissen es eben nicht besser. Als Erwachsene kann ich entscheiden, wie und mit wem ich meine Zeit verbringen will. Ich habe das Recht dazu. Heute bin ich sehr dankbar für die neuen Menschen in meinem Leben, die mich mögen und akzeptieren wie ich bin. Für sie muss ich mich nicht mehr verbiegen, kompensieren und maskieren. Ich kann Ich sein.
Beruflich: Arbeitgeber sollen schätzen lernen, dass Autisten vielfältige und individuelle Stärken haben und nicht zu viele Bedenken wegen ihrer Andersartigkeit hegen. Wir können überdurchschnittliche Leistungen, aufgrund des Autismus erbringen, wenn die Bedingungen stimmen. Nicht nur dem Klischee nach in der IT / Softwareentwicklung, sondern Autisten können je nach ihren Spezialinteressen (nicht zu verwechseln mit Inselbegabung – bekannt als Savant-Syndrom) auch gestalterisch sehr kreativ sein, können richtig gut schreiben, sind sprachlich begabt oder auch schauspielerisch talentiert. Manche können gut singen und sind damit erfolgreich. Wenn wir aufgrund von Vorurteilen vorab aussortiert werden, dann ist niemandem geholfen. Wir brauchen die Chance, unsere Stärken auch zeigen zu können. Meine Stärken liegen im visuellen Bereich und somit auch in der Fotografie. Mehr über mich findet man auf meinem Blog unter www.laviolaine.com
bw // Foto: privat
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