Angst

Angst

Angst. Ich hab ständig Angst. Da gibt es die latente Angst, krank zu werden. Der aufgekratzte Leberfleck, der tagelang gedanklich zum Hautkrebs wird. Die  Kopfschmerzen. Ein Tumor? Angst vor Krebs. Immer. Zwei Tage Schwindel. Blutgerinnsel im Kopf. Bestimmt.

Die größte Angst hab ich, um meine Kinder.
Diese herrlich furchtlosen Kinder, die von jeder Höhe und Kopf voran in jedes Gewässer springen, jede Straße jauchzend mit dem Skateboard runter heizen. Gegenverkehr? Egal. Die sich früh morgens im Halbdunkel aufs Rad schwingen, den Helm wieder nicht recht festgezurrt, dafür ganz lässig auf dem Kopf quer durch den Berufsverkehr zur Schule strampeln. Am besten ohne Hände.
Mach dich mal locker, rufen Sie mir lachend zu. Ich mach mich locker.

Wird schon gut gehen, sagt mein Verstand. Und bis hier ging ja auch alles gut.
Selbst neulich, als sich direkt neben meinem Kind dieser Unfall ereignet hat. Selbst da ging ja alles gut. Ein paar Leichtverletzte. Ihm sei nur etwas Blech um die Ohren geflogen, erzählt er nebenbei daheim, greift dabei einen Joghurt aus dem Kühlschrank und klagt, dass nur Pfirsich da sei. Verdammt!

Ich war mal furchtlos. Und bedenkenlos. Und abenteuerlich. Insgesamt riskant.

Und dann bekam ich ein Kind und all das war weg. Als hätte ich meinen ganzen Mut über die Nabelschnur an das Kind abgegeben.
Warum sagt einem das eigentlich keiner vorher?
Warum sagt einem niemand vorher, dass man nie wieder nächtelang, übermüdet und konsequent auf der linken Spur nach Südfrankreich fahren wird?
Warum sagt einem niemand vorher, dass man an stark befahrenen Straßen so hysterisch wird, dass man selbst fremde Kinder reflexartig an die Hand nimmt?
Warum sagt einem niemand vorher, dass all diese Ängste völlig nutzlos sind? Sie uns lediglich hemmen, in den täglichen Alltäglichkeiten und uns in keiner Weise schützen vor den überall lauernden Unwägbarkeiten?

Vor ein paar Jahren verbrachen wir einen Urlaub in Norwegen. An einem Tag unternahmen wir eine Wanderung zu einem Fluss. Riesige Felsen, darunter der reißende Strom. Um uns herum: Natur –  sonst nicht. Die Kinder sprangen behände von Fels zu Fels, kreischten vor Vergnügen in der spritzenden Gischt der tosenden Stromschnellen. Und ich? Ich hab’s nicht ausgehalten. Was, wenn sie abrutschen? Stürzen? Ertrinken? Mach dich mal locker, riefen sie mir lachend zu.

Und ich war so erleichtert, als wir endlich wieder auf befestigten Wegen waren.
Es war ein lieblicher Weg. Wir trafen Rinder und Ziegen.  Nur hier und da ein schroffer Felsen, weich gemacht, von überwucherndem Moos in sattem Grün. Wir aßen Blaubeeren. Die Sonne schien. Hohes Gras und lilafarbenen Wiesenblumen säumte den Wegesrand.
Jener Wegesrand, der meine Tochter urplötzlich verschluckte. Ich sah sie verschwinden. Einfach so. Ein Schritt zurück, ein ungläubiges, stummes, staunendes, kleines Gesicht, kein Ton, dann war sie weg.

Sekunden später sprang mein Mann hinterher. Ins Ungewisse. Das Ungewisse ging drei Meter in die Tiefe, am Ende war ein reißender Bach. Meine Tochter konnte nicht schwimmen, sie war vier und hat sich an einer Wurzel festgehalten. Lange genug.

Minuten später war alles vorbei. Kind gerettet, Mann leidlich unverletzt.
Alles was blieb: ein paar Schürfwunden, nasse Klamotten,  schlechte Träume und das was-wäre-wenn-gewesen-Gedankenspiel.

Ich versuche, sie mir abzugewöhnen. Die Angst. Und die was-wäre-wenn-Gedanken. Und das Hineinsteigern in die vielen trag-den-Helm-nicht-so-lose-fahr-vorsichtig-pass-auf-dich-auf-Albernheiten.
Wir können jedes Jahr einen neuen Kindersitz fürs Auto kaufen. Wir können wöchentlich den Helm erneuern, der gerade mal wieder die Treppe runter gepoltert ist. Wir können sie gesund ernähren und sämtliche Fahrzeuge mit Licht ausstatten. Wir können das Kind in Reflektoren einwickeln und den Schulweg hundertmal üben. Wir können sie zur Vorsicht in allen Lebenslagen ermahnen, sie im Zweifelsfall mit dem Auto überall hinfahren, weil wir uns dann einbilden, dass wir die Kontrolle haben.  Aber wir haben sie nicht.

Letztendlich müssen wir Vertrauen haben.  Vertrauen darin, dass schon alles gut gehen wird. Irgendwo in Norwegen am Wegesrand und auch überall sonst.

 

 

 

6. Oktober 2017

1 Kommentar

[…] weiterer, starker Oktobertext von Sarah. Auf stadtlandkind schreibt sie über die Angst und das […]

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